Diva – Die Inszenierung der übermenschlichen Frau

Diva – Die Inszenierung der übermenschlichen Frau. Interdisziplinäre Untersuchungen zu einem kulturellen Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Rebecca Grotjahn, Dörte Schmidt und Thomas Seedorf, Schliengen: Edition Argus 2011 (Forum Musikwissenschaft, Bd. 7).

Ziel des Buches ist es, die Diva – als Sängerin, als Bewunderte, als Star – in einem weiten Kontext zum Gegenstand systematischer wie historischer Untersuchungen zur Musikkultur des 19.und 20. Jahrhunderts zu machen. Sie wird hier als Protagonistin der Musik- beziehungsweise Kulturgeschichte betrachtet, als zentraler Bezugspunkt (musik-)kultureller Phänomene, und nicht – wie gerade in der Musikwissenschaft so oft – als Nebenfigur, deren Bedeutung sich lediglich aus ihrer Beziehung zu Entwicklungen der Gattungs- beziehungsweise Kompositionsgeschichte ableitet. Die Musiktheaterforschung hat die kulturellen Handlungszusammenhänge des Bühnenereignisses lange zugunsten einer an der Kategorie des Meisterwerks orientierten Analyse vernachlässigt, so daß erst seit wenigen Jahrzehnten die Bedeutung der Sängerinnen und Sänger, ihre Tätigkeit und ihre Kommunikation mit dem Publikum stärker in den Fokus des Interesses gerückt sind. Dabei sind Gender-Aspekte erst ansatzweise in den Blick genommen worden, obwohl sie sich geradezu aufdrängen.
Sowohl künstlerische Ausdrucksformen als auch Rezeptionsmodi des Publikums sind in der Musik nicht grundsätzlich von denen im Tanz, im Theater oder im Kino verschieden. Zahlreiche Werke insbesondere in der Epoche zwischen dem beginnenden 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind auf weibliche Hauptpersonen ausgerichtet und erfüllen durch ihre Inhalte wie ihre musikalisch-dramatischen Strukturen das offenkundige Bedürfnis des Publikums, diese zu bewundern. Partituren, Dramentexte oder Drehbücher sind oft geradezu darauf zugeschnitten, den Protagonistinnen ideale Möglichkeiten für die Selbstinszenierung zu schaffen. Dieser Aspekt verbindet überdies die Sphären, die als »Kunst« und »Unterhaltung« zu trennen insbesondere in der Musikgeschichtsschreibung eine problematische Gepflogenheit ist. Begriff und Phänomen der Diva liefern mithin einen Ansatz, zentrale kulturelle Epochen und Zustände, Entwicklungen und Prozesse zu beschreiben. Was besagt das Phänomen der Diva und seine Rezeption über die kulturelle und soziale Rolle von Künstlerinnen, was über Umgangsweisen mit Musik, was über die Medialität einer Epoche? Was unterscheidet eine Kultur, in der es die Diva im engeren Sinne noch nicht gab, von dem Zeitalter Sarah Bernhards und Greta Garbos oder dem Mariah Careys und Anna Netrebkos?
Eine Frage, die sich durch eine Reihe der Beiträge dieses Bandes zieht, ist die nach der (Selbst-)Inszenierung der Diva auf dem Podium, in der Presse, der (Auto-)Biografik und der Ikonographie. In welchem Verhältnis stehen Privatleben und Inszenierung? Welche Rolle spielt die äußere Erscheinung für die Wahrnehmung der Diva? Besonderes Augenmerk wird weiterhin auf den Zusammenhang des Phänomens Diva mit der künstlerischen Tätigkeit des Singens gelegt: Sind für die Identifikation der Sängerinnen mit der Diva nur historische Gründe maßgeblich (da sich der Begriff an Sängerinnen herausgebildet hat und gewissermaßen daran haften blieb), oder prädestinieren spezifische Momente speziell die Sängerin für die Diven-Rolle, etwa die besondere Wirkung der – weiblichen? hohen? – Singstimme oder die durch die Anfälligkeit der Stimme bedingte »Empfindlichkeit« der Sängerin?
Der Diva kommt im 19. Jahrhundert eine entscheidende Bedeutung nicht nur als Zentralfigur des öffentlichen Lebens und Adressatin öffentlich artikulierter Emotionen zu, sondern auch als Bezugspunkt von Musiktheater als Kunst: Die Oper ist auch die Bühne der sich selbst inszenierenden Diva. Werke des Musiktheaters werden nicht zuletzt auf diese Selbst-Inszenierungsmöglichkeiten hin konzipiert, was nicht nur die Gestaltung der Gesangspartien betrifft, die den Sängerinnen »auf den Leib geschneidert« werden, sondern auch Personenkonstellationen und Eigenschaften beziehungsweise Charaktere der Figuren. Dabei ist zu erkunden, ob es individuelle Diven-Stars sind, die musikalisch-dramatisch inszeniert werden (wie in der Pariser und Wiener Operette) oder ob die Diva eher als Typus Eingang in eine Rolle und damit in das dramatische Konzept findet.