„El ritual sonoro catedralicio en la Nueva España y el México independiente“

Oaxaca (Mexiko), 17.-19.11.2011

Von Klaus Pietschmann, Mainz – 24.01.2012 | Mit dem Kolloquium in der innerhalb des monumentalen Dominikanerkonventes von Oaxaca gelegenen Biblioteca Burgoa ging ein zweijähriges, vom mexikanischen Consejo Nacional de Ciencia y Tecnología (CONACYT) gefördertes Forschungsprojekt der Universitäten von Puebla und Guadalajara, der Universidad de Mexico (UNAM) sowie des Centro de Investigaciones y Estudios Superiores en Antropología Social (CIESAS) zu Ende, das sich in interdisziplinärer Perspektive mit unterschiedlichen Aspekten der neuspanischen Kathedralmusik auseinandersetzte und dabei insbesondere die musikhistorisch fokussierte Auswertung der Diözesanarchive von Mexiko City, Puebla, Oaxaca und Guadalajara ins Zentrum rückte. Die von vier der fünf Teilprojekten bestrittenen Sektionen dokumentierten eindrucksvoll die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung, die aus der Not der nur rudimentär etablierten mexikanischen Musikwissenschaft insofern eine Tugend machte, als fundierte Quellenerschließung mit einer bemerkenswerten methodischen Breite der herangetragenen Fragestellungen verbunden wurde. Die Prämisse, dass den musikalischen Zeugnissen unter einer im engeren Sinne musikhistorischen Perspektive eine nachgelagerte Bedeutung zukommt, sie aber ein zentrales Element für das Verständnis der Geschichte des kolonialen Mexiko darstellen, beförderte dabei eine konstruktiv-nüchterne, von Legitimationsdruck und nationalen Untertönen freie Herangehensweise an das seit den Pionierarbeiten von Robert Stevenson eher vernachlässigte Forschungsgebiet.

Die von Montserrat Galí (Puebla) organisierte Sektion „El ritual sonoro en las ciudades episcopales“ nahm unterschiedliche klangliche Ebenen des liturgischen Zeremoniells innerhalb und außerhalb von Kathedralkirchen in den Blick. Ausgehend von einer Bestimmung des rituellen Ortes der Kathedrale innerhalb einer von Welt- und Regularklerus bestimmten Situation wie derjenigen von Puebla (Jesús Joel Peña Espinosa) konzentrierten sich die weiteren Referate auf die jesuitische Festkultur dieser Stadt am Beispiel der Feiern zur Kanonisation von Ignatius von Loyola 1623 (María Elena Stefanón López), die Predigtkultur in ihrer szenographisch-theatralen Dimension (Franziska Neff), die Prozessionen und dabei speziell auf die Bedeutung tragbarer Orgeln (Galia Greta Hernández Rivero und Ivoon Manzano Carmona), die Rolle der spezifischen musikalischen Ausdrucksmittel der indigenen Bevölkerung mit ihrer Vermischung prähispanischer sowie kolonialer Elemente innerhalb der Stadtkultur von Puebla (Lidia E. Gómez García), die Rolle der Musik sowie speziell auch der Stille im Kontext der Trauerfeierlichkeiten zum Tode der Königin Isabel von Bourbon sowie König Philipps IV. (Emmanuel Michel Flores Sosa), den Empfang des bedeutenden Erzbischofs von Puebla Juan de Palafox y Mendoza im Jahre 1640 und seine Ernennung zum Vizekönig 1642 (María de la Cruz Ríos Yanes), die szenischen und klangdramaturgischen Elemente von vizeköniglichen Festen in Puebla unter den Habsburgern und den Bourbonen (Guadalupe Pérez Rivero Maurer) sowie die zeremonielle Funktion von Kanonendonner und Glockengeläut anläßlich der Feierlichkeiten der Wiederzulassung der Jesuiten in Puebla im Jahre 1853 (Sergio Francisco Rosas Salas). Vorangegangangen war eine Keynote zu den unterschiedlichen kirchenmusikalischen Klangräumen im spätmittelalterlichen Florenz und deren Parallelen zur Rolle der Musik in der frühen neuspanischen Mission (Klaus Pietschmann).
Den verschiedenen Akteursgruppen war die zweite, von Lourdes Turrent koordinierte Sektion „Los actores sociales del ritual sonoro“ gewidmet. Die Keynote (John Lazos) porträtierte José Antonio Gómez y Olguín, einen Protagonisten der Kirchenmusik im Mexiko der von Säkularisierungstendenzen geprägten frühen Unabhängigkeit, dessen geringe Berücksichtigung in der bisherigen mexikanischen Musikhistoriographie von deren republikanisch-nationalistischer Ausrichtung zeuge. Die Referate thematisierten die Berufungspraxis der Domkapitulare von Mexico City sowie deren musikalische Aufgaben im Chorgebet (Lourdes Turrent), die häufig aus der indigenen Bevölkerung rekrutierten Glöckner in der Kathedrale von Guadalajara (Grecia Guadalupe Carvajal Becerra), Rekrutierung und Aufgabenspektrum der Sängerknaben in der Kathedrale von Mexico City (Ingrid Sánchez Rodríguez), Klavierschülerinnen aus gehobenen Kreisen Mexicos im 19. Jahrhundert als wahrscheinliche Nutzerinnen des großen Bestandes an pianistischer Salonmusik im Kathedralarchiv von Mexico City (Alfredo Nieves Molina), die Concertato-Praxis derselben Kathedrale im 18. Jahrhundert (Erika Salas Cassy), die 1758 ebenda erlassenen Statuten für die Sängerschaft und die vorausgegangenen institutionellen Probleme (Raúl Heliodoro Torres Medina) sowie die personelle Situation derselben Kapelle unter der Leitung eines ihrer bedeutendsten Kapellmeister, Manuel de Sumaya (Viridiana Olmos).
Die musikalische Praxis in den Pfarrkirchen und anderen kathedralfernen Kontexten thematisierte die dritte, von Sergio Navarrete Pellicer koordinierte Sektion „El ritual sonoro en las parroquias y doctrinas foráneas“. In seiner Keynote stellte Aurelio Tello drei Musikhandschriften aus Pfarrkirchen in Oaxaca, Tlaxcala und Yautepec vor, die nicht nur das erstaunliche Niveau der entsprechenden Klangkörper, sondern auch deren starke Orientierung an den Repertoires der jeweiligen Kathedralkirchen dokumentieren. Die Referate behandelten eine Reihe von Sammlungen christlicher Gesänge in zapotekischer Sprache sowie deren liturgische Verortung (David Tavárez), Musikkapellen unterschiedlichen Zuschnitts in den Indiodörfern um Puebla (Lidia E. Gómez García und Gustavo Mauleón Rodríguez), das mehrstimmige, vorwiegend aus Abschriften des 19. Jahrhunderts von älteren Kompositionen bestehende Repertoire der Dorfkirche San Cristóbal Suchixtlahuaca (Perla Miriam Jiménez Santos), die Kapellmeister der Kathedrale von Oaxaca sowie deren überlieferte Kompositionen (Ryszard Rodys), Personal und Organisationsstruktur der Musikkapelle der Pfarrkirche Jalatlaco (Lérida Moya Marcos), die Transformation von kirchlichen Musikkapellen zu kommunalen Klangkörpern um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Sergio Navarrete Pellicer) und die sozial-integrative Funktion von Musikpflege innerhalb der Bruderschaft der Morenos de Guinea im Hospital von San Cosme y San Damián in Oaxaca (Maira Cristina Córdova Aguilar).
Die letzte, von Celina Guadalupe Becerra koordinierte Sektion „La enseñanza y el ejercicio de la música“ war den Ausbildungsstrukturen gewidmet. Die Keynote von Omar Morales Abril beleuchtete in einer auf beeindruckende archivalische Evidenz gestützten Rekonstruktion der Ausbildung und des Werdegangs von Gaspar Fernández zwischen Guatemala, Puebla und Oaxaca im frühen 17. Jahrhundert dessen zentrale Rolle in der neuspanischen Musikgeschichte (dokumentiert im sog. Cancionero musical de Gaspar Fernández im Kathedralarchiv von Oaxaca). Die vor allem auf die Kathedrale von Guadalajara bezogenen Referate befassten sich mit der Schaffung von Ausbildungsstrukturen in den Jahren um 1600 (Celina Guadalupe Becerra), der Kathedralschule im frühen 18. Jahrhundert (Cristóbal Margarito Durán Moncada), die zunehmende Säkularisierung des Musiklebens im Spiegel der Ausbildungssituation (Juan Arturo Camacho Becerra) sowie schließlich die Ausbildung der Sängerknaben an der Kathedrale von Valladolid de Michoacán im 18. Jahrhundert (Violeta Paulina Carvajal Avila).
Ungeachtet der enormen Dichte dieser auf nur zwei Tage verteilten Referate waren Niveau und Erkenntnisgewinn bemerkenswert, und es ist daher zu begrüßen, dass die Beiträge nicht nur gedruckt werden sollen, sondern zu einem großen Teil bereits auch online zugänglich sind (http://ritualsonoro.org/ritualsonoro/?page_id=194).