„Maestro! L’arte interpretativa dei direttori d’orchestra italiani nel Novecento“

Rom, 26.04.2012

Von Carlo Mertens, Greifswald/Rom – 16.05.2012 | Ist die nationale Repertoirepflege für italienische Dirigenten heute noch von Belang? Und wie hat sich das Verhältnis zwischen Dirigent und Avantgarde im Italien des 20. Jahrhunderts verändert? Dies waren zwei von vielen Kernfragen der von Peter Niedermüller am Deutschen Historischen Institut in Rom veranstalteten Tagung. Die Beiträge sollen in der Institutsreihe, den Analecta Musicologica, erscheinen.

Die erste der drei Sektionen stand unter dem Titel „Toscanini und seine Zeitgenossen“: David N. Patmore (Sheffield) befaßte sich zunächst mit dem Konkurrenzkampf zwischen den Plattenfirmen Columbia Graphophone Company und The Gramophone Company. Diesen Kampf im Großbritannien der Zwischenkriegszeit beschrieb er als sehr fruchtbar für die Firmenprogramme: So seien bekannte Dirigenten als „house conductor“ engagiert worden. Bei der Gramophone Company waren dies vor allem Italiener, wie Piero Coppola und Lorenzo Molajoli. Besonders Coppola unterstützte die Aufnahmen von Werken der französischen Avantgarde. Die heute mangelnde Kreativität und Innovationskraft der großen Plattenfirmen sieht Patmore gerade der verminderten Konkurrenzsituation – und der Verlängerung der Urheberrechte geschuldet. In den USA könne man hier, so Patmore, von einem Mickey-Mouse-Paragraphen sprechen, da die Filmindustrie, in der Furcht um eine sichere Einnahmequelle, sich jeder Verkürzung der Urheberrechte vehement widersetze. In der sich anschließenden Diskussion unterstrich Markus Engelhardt (Rom), wie sehr sich das Konzertleben durch die Plattenindustrie verändert habe. Die Entscheidungsmacht der Programmdirektoren sei nicht zu unterschätzen.

Dass das DHI – anders als viele Plattenfirmen – gegenüber technischen Neuerungen sehr aufgeschlossen ist, bewies der nächste Vortrag: Dieser Beitrag von Gesa zur Nieden (Mainz) wurde in absentia verlesen, zur Nieden konnte aber durch eine Videoschaltung an der Diskussion teilnehmen. Ihr Vergleich zwischen den Interpretationen der Straussschen Salome op. 54 durch Arturo Toscanini und Richard Strauss thematisierte die Entwicklung des Dirigenten zum Labelstar. So zitierte sie Hans Heinrich Stuckenschmidts Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 1958 an Toscanini und den mit ihm verbundenen Dirigenten-Starkult.

Auf Toscaninis Selbstbewusstsein als Interpret ging auch Antonio Rostagno (Rom) ein, indem er auf die Eingriffe des Italieners in die Partituren von Giuseppe Verdis Aida hinwies. Rostagno machte dabei das (wohl an Benedetto Croce geschulte) Kalkül von Toscaninis rhythmischen Akzentuierungen und Stimmergänzungen deutlich. Der Dirigent sei immer zuerst in den Notentext eingetaucht und habe bei Opern auch den inhaltlichen Kontext berücksichtigt. Als aussagekräftiges Beispiel führte er Furtwänglers und Toscaninis Interpretation der zwei Kussszenen in Verdis Otello an. Furtwängler folge streng der Syntax des musikalischen Textes, aber er berücksichtige nicht den konträren inhaltlichen Zusammenhang, in dem die beiden Szenen jeweils stünden.

Auch Jürg Stenzl (Salzburg) hob die geschickten Retuschen Toscaninis in der zweiten Sektion der Tagung hervor. Diese stand unter dem Titel „Der internationale Kontext“. Stenzl thematisierte Toscaninis Dirigate französischer Musik. Dessen Retuschen hätten immer der Ausdruckslogik und der Darstellungsklarheit gedient und seine Aufnahmen zeichne deshalb eine besondere Transparenz aus. Vergleichende Metronommessungen Stenzls zeigten außerdem, dass Debussys La mer (Lesure/Labordowsky 109) vor 1945 auch von anderen Dirigenten schneller dirigiert wurde. Schließlich machte ein Vergleich der Tempi von Toscanini und Herbert von Karajan die Vorbildfunktion des Italieners für den Österreicher deutlich.

Auf diesen Zusammenhang ging auch Hartmut Hein (Köln) in seinem Vortrag mit dem Titel „Toscanini – De Sabata – Karajan“ ein. Als „ein[en] Settembrini der Musik“ habe Karajan Toscanini in einem Interview bezeichnet und in den Dreißigern nahezu alle seine Proben für die Salzburger Festspiele besucht. Die Nähe Karajans zu dem Italiener sei auch von den Zeitgenossen empfunden worden. So engagierte Wieland Wagner Karajan im Nachkriegsbayreuth mit der Begründung, dass eine „Entfettung der Musik Wagners“ nötig sei und dies gerade „lateinischen Dirigenten besonders gut“ gelänge. Hörbeispiele zeitlich naher Aufnahmen von Wolfgang Amadé Mozarts Haffner-Sinfonie KV 385 durch Karajan und Toscanini machten die Nähe nachvollziehbar. Karajan habe sich aber, so Hein, mehr als eine Synthese aus Victor De Sabata und Toscanini empfinden können, als ein reiner Adept Toscaninis. Hein verwies dabei nicht nur auf de Sabatas Tosca-Einspielung, sondern auch auf die Selbstinszenierung des Triesters, beispielsweise die im dunklen Orchestergraben angestrahlten Hände. All dies sei für Karajan vorbildlich gewesen.

Der Vortrag von Martin Elste (Berlin) hingegen widmete sich der Bedeutung der US-amerikanischen Plattenfirma Cetra-Soria bei der Entstehung der Operngesamteinspielungen der Nachkriegszeit. Die Aufnahmen standen unter der Leitung des Firmengründers Dario Soria. Er brachte innerhalb kurzer Zeit die ersten Gesamteinspielungen vieler italienischer Opern auf den Markt. Die Entscheidung für italienische Dirigenten und Interpreten war dabei auch finanziellen Erwägungen geschuldet: Der hohe Dollarkurs machte die Produktion im Nachkriegsitalien sehr günstig und erhöhte somit die Gewinnmarge in der angelsächsischen Welt. Zukunftsweisend war dabei sowohl die musikalische als auch editorische Gestaltung der Aufnahmen. Erstmals wurden bei Mozarts Le nozze di Figaro KV 492 die Rezitative von einem Cembalo begleitet und erstmals gab es zur Aufnahme das Libretto als Beiheft. In der anschließenden Diskussion wurde auf die Bedeutung der Aufnahmeleiter hingewiesen, deren Bedeutung noch der grundsätzlichen Erforschung bedarf.

In der letzten Sektion „Der Maestro in der Postmoderne“ thematisierte Peter Niedermüller (Rom) die Entwicklung Giuseppe Sinopolis vom Avantgarde-Komponisten zum Dirigenten spätromantischer Musik. Dabei stand auch die Inszenierung Sinopolis durch sein Label Deutsche Grammophon Gesellschaft im Focus. Mit „Lennon-Brille, Borsalino und Vollbart“ werde der Dirigent auf den CD-Covern klar als italienischer Intellektueller der Postmoderne dargestellt. Niedermüller beleuchtete zudem die von Sinopoli nicht eingestandene Vorbildfunktion Bruno Madernas bei seinen Mahleraufnahmen. Er wies auf das Desiderat einer historischen Querschnittsdarstellung hin, um Sinopoli in der Dirigentenszene der Neunziger Jahre besser verorten zu können.

Im letzten Beitrag gingen Vincenzina Ottomano (Bern) und Angela Ida de Benedictis (Cremona) auf den Einsatz Claudio Abbados für die zeitgenössische Musik in den 1980er Jahren ein. So sei die eigenständige Überarbeitung von Luigi Nonos Prometeo durch Abbado angeregt worden. In der anschließenden Diskussion wies Elste auf das Oligopol der Deutschen Grammophon im Bereich der Neuen Musik in den Achtziger Jahren hin. Dies habe den Einsatz für die Neue Musik attraktiver gemacht als die heutige Situation vieler kleiner Firmen. Jürg Stenzl merkte auch an, dass Abbado sich heute kaum noch für die zeitgenössische Musik stark mache.

Diese zunehmende Distanz zwischen italienischen Dirigenten und Avantgarde im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde von Peter Niedermüller auch in der Abschlussdiskussion hervorgehoben. Für das Konzertrepertoire hätten die Plattenfirmen zudem eine wichtige Rolle übernommen. Sowohl in Italien als auch in Deutschland würden sie sich dabei noch immer der Pflege des nationalen Repertoires verpflichtet fühlen. Dies gelte auch für den Maestro.