„Studienkurs am Händel-Haus zum Oratorium Theodora“
Halle (Saale), 25.-27.09.2013
Von Sjur Haga Bringeland, Leipzig/Bergen (Norwegen) – 10.10.2013 | Der alljährlich im Herbst stattfindende dreitägige Studienkurs der Stiftung Händel-Haus in Halle an der Saale bietet fortgeschrittenen Studierenden der Musikwissenschaft und Musikstudierenden mit Schwerpunkt Historische Aufführungspraxis die Möglichkeit, namhaften Händel-Forschern und -Forscherinnen zu begegnen, um sich mit Problemen des Edierens, der Aufführungspraxis und der Rezeptionsgeschichte zu befassen. Auch die Sammlungsbestände der Stiftung Händel-Haus werden besichtigt, eine Sammlung, die neben Dokumenten zum Leben und Wirken Händels auch über eine reiche Instrumentensammlung verfügt.
2013 nahmen neun Studierende aus Deutschland, Österreich, Norwegen und Japan teil.
Neben den Veranstaltungen mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Händel-Hauses und Dozenten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Musik, Abteilung Musikwissenschaft, gab es Seminare und Vorträge mit Gastdozenten aus dem In- und Ausland. Die Gestaltung des Hauptseminars wurde von Prof. Dr. Colin Timms, Birmingham, übernommen, der mit den Kursteilnehmern über seine Arbeit an der Edition des Oratoriums Theodora sprach.
Der erste Tag begann im „Renaissance-Raum“ im Nachbargebäude des Händel-Hauses. Dieser Raum bildete wie jedes Jahr das räumliche Zentrum des Kurses. Die Teilnehmer wurden begrüßt von Clemens Birnbaum, Direktor der Stiftung Händel-Haus und Intendant der Händel-Festspiele; von Prof. Dr. Wolfgang Hirschmann, Inhaber des Lehrstuhls für Historische Musikwissenschaft am Institut für Musik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; von Dr. Konstanze Musketa, der Organisatorin des Studienkurses und Leiterin der Abteilung „Bibliothek, Archiv, Forschung“ der Stiftung Händel-Haus; und schließlich Prof. Dr. Colin Timms von der University of Birmingham.
Eingeleitet wurde der fachliche Teil von Frau Dr. Annette Landgraf, die eine gründliche Vorstellung der Richtlinien der Hallischen Händel-Ausgabe (HHA) gab und die allgemeine Geschichte der Händel-Editionen seit den Anfängen bis zur Gegenwart schilderte: Von den Raubdrucken zu Händels Lebzeiten über die von Samuel Arnold gestalteten ersten systematisch-umfangreichen Partitureditionen des 18. Jahrhunderts, über Friedrich Chrysanders „Alte Händelausgabe“ der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis hin zur modernen HHA. Großes Interesse und Vergnügen fanden die Studierenden an den zahlreichen Originaldrucken aus den Sammlungsbeständen des Händel-Hauses, die Frau Landgraf als Beispiele in die Runde reichte.
Nach der Mittagspause führte Frau Dr. Musketa zunächst durch das Verwaltungsgebäude der Stiftung, wo über aktuelle Forschungsprojekte informiert wurde, gefolgt von Besichtigungen der Restaurierungswerkstatt und der Bibliothek. Anschließend hielt Dr. Ulrich Etscheit vom Bärenreiter-Verlag Kassel einen Vortrag, der unter dem Titel „Von Halle auf die Opernbühnen der Welt“ über die Verlagsperspektive auf die Operneditionen der Hallischen Händel-Ausgabe berichtete. Die Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen erfuhren erstaunend, mit welch immensem Aufwand und Kosten solch eine Gesamtproduktion großer Opernpartituren und -stimmensätze verbunden ist.
Nach der Führung durch die 2009 eröffnete Dauerausstellung „Händel, der Europäer“ mit dem Betriebsleiter des Museums, Gert Richter, endete das Tagesprogramm mit einem öffentlichen Vortrag im Kammermusiksaal des Händel-Hauses: „Händels Theodora und die Leiden einer Jungfrau. Frühchristliche Überlieferungen und theologische Bedeutung“. Dieser nachdenkliche und interessante Vortrag des Theologen und Musikwissenschaftlers Dr. Erik Dremel vom Institut für Systematische Theologie, Praktische Theologie und Religionswissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg war von interessierten Hallensern gut besucht. Unter Einbeziehung von Musikbeispielen ging er den historischen und theologischen Hintergründen des Oratoriums nach, die in der zentralen Auslegungsfrage mündeten: Spiegelt Theodora als ethisches Drama tatsächlich die Ideale der Aufklärung, oder ist solch eine Sichtweise eher ein Ausdruck anachronistischer Projektion?
Das Hauptseminar zur Editionstechnik eröffnete den zweiten Kurstag im Renaissance-Raum, wo Professor Dr. Colin Timms seine Einsichten und Erfahrungen von einem langen Leben als Händel-Forscher und -Editor teilte. Timms’ Qualitäten als Pädagoge und sein freundliches Wesen, in Kombination mit seinem feinen analytischen Spürsinn und seiner spürbaren Liebe zur Musik Händels gab dem sich über zwei Tage und insgesamt sechseinhalb Stunden ziehenden Seminar ein entspanntes Ambiente mit zahlreichen anregenden Diskussionen. Erst bekamen die Teilnehmer eine Einführung in die Entstehungsgeschichte des Oratoriums, über die einzelnen Aufführungen unter dem Komponisten und die für Händel so charakteristischen (und für den Herausgeber so problematischen) Änderungen, die der Komponist von Aufführung zu Aufführung durchzuführen pflegte. Wann, wie und warum änderte Händel sein Werk? Dies waren Fragen, die Timms mittels allgemeiner Erkenntnisse zur Kompositionstechnik Händels, durch Vergleiche der autographen Partitur mit der Direktionspartitur und den wenigen erhaltenen Stimmenmaterialien sowie Untersuchungen des Notenpapiers bezüglich Wasserzeichen, Rastrierungen und Lagenordungen der Einbindung zu beantworten versuchte. Alles in allem konnte manch ein Kursteilnehmer feststellen, dass das Aufarbeiten und Edieren eines solch großen Händel-Oratoriums in mancher Hinsicht polizeilichen Ermittlungen in komplizierten Kriminalfällen an Komplexität nahekommt. Für das Identifizieren der für Händel so typischen Entlehnungen oder „Borrowings“, besonders von Werken Agostino Steffanis, bringt Timms beste Voraussetzungen mit: Neben seiner Kompetenz als Händel-Forscher ist er auch einer der weltweit führenden Steffani-Experten, und er konnte nachweisen, wie Händel in einigen Chorsätzen des Oratoriums sich fast eins-zu-eins der Kompositionen Steffanis bediente.
Nach einer Führung durch die Ausstellung historischer Musikinstrumente des Händel-Hauses endete der Tag mit einem Seminar zur historischen Aufführungspraxis in Theodora mit Christoph Spering, Dirigent des Ensembles Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester. Am Seminar nahmen auch Musikwissenschaft-Dozenten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg teil. Es kam zu lebhaften Diskussionen zu einigen konkreten aufführungspraktischen Problemen in Theodora, besonders die der Ausführung der Orgelstimme in den Secco-Rezitativen.
Am dritten Tag, nach dem zweiten Teil von Professor Timms’ Seminar, gab Frau Dr. Musketa eine Führung durch die Dauerausstellung „Musikstadt Halle“ im Wilhelm-Friedemann-Bach-Haus, eine Ausstellung, die nicht nur dem ältesten Bach-Sohn gewidmet ist, sondern auch anderen wichtigen Musikerpersönlichkeiten der Stadt, unter anderen Samuel Scheidt, Johann Friedrich Reichardt, Carl Loewe und Robert Franz.
Mit der anschließenden gemeinsamen Auswertung des Studienkurses, bei der die Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen sich nahezu ausschließlich positiv über inhaltliche und fachliche Aspekte der Veranstaltung äußerten und einen herzlichen Dank an Frau Dr. Musketa für ihre Organisation richteten, endete der letzte Tag.