Transfer und Diversität. Musik und Transkulturelle Praxis: Deutschland – Türkei

Berlin, 09.-11.10.2014

Von Clemens Gubsch und Friederike Janott, Berlin – 12.11.2014 | Im Zuge des Deutsch-Türkischen Wissenschaftsjahres veranstaltete das Institut für Musik- und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin in Zusammenarbeit mit dem Center for Advanced Studies in Music der Technischen Universität Istanbul vom 9. bis 11. Oktober 2014 das Symposium „Transfer und Diversität. Musik und transkulturelle Praxis: Deutschland – Türkei“, welches durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen eines Ideenwettbewerbs unter gleichnamigem Titel als Projekt gefördert wurde.

Mit dem besonderen Anliegen zu einem Perspektivwechsel in der (Musik-)Forschung beizutragen – weg von einem primär essentialistischen, in sich geschlossenen und klar abgegrenzten Kultur- sowie Musikverständnis hin zu einem den Transferprozessen und Diversitäten von kulturellen Akteuren gerecht werdenden, offenem und dynamischen Verständnis – thematisierte das Symposium die Relation von Musik und transkultureller Praxis. Aufgrund der gemeinsamen transnationalen Geschichte und Gegenwart Deutschlands und der Türkei sollte das Symposium sowohl den notwendigen Dialog zwischen beiden Kulturen fördern, als auch die allgegenwärtige transkulturelle Durchdringung und Verflechtungen scheinbar getrennter Kulturentitäten herausarbeiten.

Das Symposion umfasste insgesamt 26 Vorträge von 30 Referentinnen und Referenten. Der Einführungsvortrag von PD Dr. Jin-Ah Kim (Berlin) wies auf den Mangel an Ansätzen und Begrifflichkeiten für das Konzept der Hybridizitäts- und Transkulturalitätsforschung hin und stellte gleichsam die beiden Kategorien „Transfer“ und „Diversität“ als Grundbegrifflichkeiten für transkulturelle Forschung vor. „Transfer“ definiert sich als Bewegungsprozess innerhalb der sozialen Praxis, wohingegen „Diversität“, die sichdurch Momente des Transfers erst konstituiert, sich nicht nur auf die Vielfalt vermeintlich verschiedener Kulturen, sondern auch auf die Vielfalt einer vermeintlich einheitlichen Kultur bezieht. Als analytische Techniken sollen „Transfer“ und „Diversität“dazu dienen, Übergänge und Schwellen der kulturellen Praxis, die andernfalls unbeachtet blieben, zu konzeptualisieren. Auch Prof Dr. Wolfgang Welsch (Berlin) kritisierte die traditionelle Auffassung von monolithischen, homogenen Kulturen als deskriptiv unzutreffend und plädierte für ein Kulturverständnis, welches sich durch Vernetzung und Verflechtung charakterisiert. Der Effekt der Transkulturalität/ Hybridizität zeitigt sich nicht erst auf der Makro-, sondern bereits auf der Mikroebene: Individuen agieren als hybride, kulturelle Akteure. Über die theoretische Ebene hinaus löste der Ansatz, Musik begünstige aufgrund ihres Universalitätsvorteils – im Sinne der weitgehenden Unabhängigkeit von der Wortsprache – die transkulturelle Praxis, eine intensive Diskussion aus.

Mit der Feststellung des Fehlens einer transnationalen Kulturpolitik bei gleichzeitig vorhandenem transnationalen Bewusstsein und transnationaler Wirtschaft leitete Prof. Dr. Max Peter Baumann (Würzburg) seinen Vortrag zur Dynamik transkultureller Prozesse in der europäisch-deutsch-türkischen Begegnung ein. Die kulturelle Identität sei nicht als etwas Stabiles zu betrachten, sondern als ein permanenter Neuverhandlungsprozess eines Individuums. So entscheide bspw. nicht die Kultur, sondern das musikindividuelle Bewusstsein des Einzelnen über musikalische Vorlieben.

Anhand der handschriftlichen Quellen des Renegaten Ali Ufkîs (Albert Bobowski), der am osmanischen Hof als Musiker und Komponist tätig war und u.a. mehrere Semâî Efrenci [fränkische Semâî]schrieb, referierte Prof. Dr. Ralf Martin Jäger (Würzburg) über die Rezeption europäischer Musik im Osmanischen Reich des 17. und 18. Jahrhunderts. Neben der offenen Frage, inwieweit die europäisch-westliche Kunstmusik in der osmanischen Metropole positiv aufgenommen wurde, resümierte Jäger, dass am osmanischen Hof – trotz der ungenügend überlieferten Quellen – eher von einer Kenntnisnahme der europäischen Kunstmusik, als von Gleichrangigkeit und/oder Assimilation gesprochen werden kann. Ein ähnliches Bild zeichnete sich ebenfalls in PD Dr. Elif Damla Yavuz’ Vortrag über das Institutionalisierungsprojekt Paul Hindemiths in der Türkei ab. Auch wenn das Projekt – ein Konservatorium nach europäischem Vorbild zu gründen und ein reges Musikleben aufzubauen – überwiegend von finanziellen, zeitlichen und sozial-strukturellen Hindernissen gekennzeichnet war, zeigt sich auch hier, dass weder vom klaren Scheitern noch von der vollständigen Umsetzung der Vorhaben Hindemiths gesprochen werden kann.

Der interdisziplinäre Vortrag von Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan (Duisburg-Essen) zu Klischees und Vorurteilen gegenüber Türken und Möglichkeiten ihrer Überwindung eröffnete den Diskurs über kulturelle und gesellschaftliche Integration türkeistämmiger Zuwanderer in Deutschland zwischen Tradition und Assimilation. Anhand der Gurbet-Lieder (Lieder aus der Ferne), die die Isolation und Heimatlosigkeit türkischer Migranten – die im Zuge der Gastarbeiteranwerbung in den 1960er Jahren in die BRD kamen – widerspiegeln, thematisierte Assoc. Prof. Dr. Abdullah Akat (Trabzon) Musik als identitätsstiftenden Kulturträger. Dabei wurde die Problematik der kulturellen Migration und der Umgang mit selbiger am Beispiel der Migranten aus der Schwarzmeerregion geschildert und mit Beobachtungen aus seiner Feldforschung zu Hochebenen-Festen in Deutschland ergänzt.

In seinem Vortrag zum globalen/lokalen Nexus islamischer Popmusik in der Türkei differenzierte Prof. Dr. Ayhan Erol (Istanbul) zwischen populärer und zeitgenössischer islamischer Musik, um Formen der Definition, Verwendung und Neukonzeptionalisierung islamischer Musik zu betrachten. Da die Musikpraktiken der populären islamischen Musik eine wichtige symbolische Rolle bei der Wiederherstellung der städtischen muslimischen Identität einnehmen und zwischen regionaler und internationaler islamischer Musik eine ständige Interaktion stattfindet, kategorisierte Erol die verschiedenen musikalischen Identitäten, um diese für eine Analyse zugänglich zu machen. Als diskutabel stellte sich dabei die Definition „islamischer Musik“ heraus, da die verschiedenen religiösen und politischen Ausrichtungen eine eindeutige Kategorisierung erschweren. Das Phänomen der populären islamischen Musik wurde auch in Prof. Dr. Songül Karahasanoğlus (Istanbul) Vortrag verdeutlicht. Dass diese seit den 1980er Jahren nicht nur auf dem türkischen Musikmarkt, sondern auch bei den türkischen Gemeinden im Ausland einen großen Absatzmarkt fand, lässt sich einerseits aus der Funktion der Musik, eine Wirklichkeit des Konsumenten auszudrücken, und andererseits aus der politischen Instrumentalisierung durch die Verbindung von Kultur und Politik erklären. Die Verbindung zwischen lokaler/globaler und transnationaler Wirkung von Musik wurde ebenfalls in PD Dr. Martin Greves (Istanbul) Vortrag zur Musik aus Dersim in Europa thematisiert und durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht. Aufgrund des militärischen Ausnahmezustandes und der Diskriminierung in den 1960er Jahren flüchteten viele Menschen aus der Ostanatolischen Region Dersim nach Europa. Die meisten heute bekannten dersimer Musiker leben bzw. lebten in Europa, wodurch sich vielfältige musikalische Ansätze herausbildeten und aufgrund des alljährlichen Munzur-Festivals ein regelmäßiger, intensiver Austausch stattfindet.

Prof. Dr. Erol Parlak (Istanbul) wies in seinem Vortrag auf die zentrale Stellung der Bağlama (Saz) in der anatolischen Musikkunst, in der Kommunikation mit der Außenwelt und im kulturellen Transfer, sowie als Instrument zur Entwicklung der Individual- und Gesellschaftskultur hin. Der darauffolgende Vortrag von Assist. Prof. Dr. Mehmet Ali Özdemir (Istanbul) machte hingegen darauf aufmerksam, dass die Bağlama erst sehr spät (vor 15–20 Jahren) in die Lehrerausbildung und den Instrumentenkanon aufgenommen wurde und sich die Lehrmethoden und die musikalische Praxis – im Gegensatz zu anderen Instrumentengruppen – nicht von der traditionellen (Volks-)Musik gelöst hätten. Fraglich bleibt, ob die eingebrachten Vorschläge zur Einbindung der Bağlama in die westliche Musik – bspw. die Schaffung origineller Werke nach dem Vorbild westlicher Musikformen oder die Adaption westlicher Kompositionen für die Bağlama – zu einer Aufwertung des Instruments einerseits oder zu kulturellen Transferprozessen zwischen der Türkei und Europa andererseits beitragen können. Ein Abendkonzert und mehrere, auf das Symposium folgende Workshops zeigten die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Bağlama: sowohl in traditioneller, wie auch in moderner türkischer als auch in westlicher Musik.

Prof. Dr. Şehvar Beşiroğlu und Dr. E. Şirin Özgün (beide Istanbul) widmeten sich in ihrem Vortrag der Darstellung weiblicher Sexualität und Körper in der türkischen Musik. Ausgehend von der These, dass Musik in der Türkei eine wichtige Rolle beim Ausdruck der politischen Forderungen spielt, ist auch die Forderung der Frauen nach Freiheit ein Teil dieses Prozesses. Anhand zweier Lieder, die in der feministischen Bewegung der Türkei entstanden sind, untersuchten und exemplifizierten die Referentinnen die Bedeutungssegmente im Kontext der Forderungen der Frauenbewegung im Spannungsverhältnis zur aktuellen politischen Situation in der Türkei. Studentische Beiträge zum Bild der Weiblichkeit in Bauchtanzszenen in Filmen einerseits, sowie andererseits zur Alltags- und Musikpraxis türkischer Musik in Berlin als Ort kultureller Transferprozesse, rundeten das Symposium ab.

In der Abschlussdiskussion unter der Leitung von PD Dr. Martin Greve und PD Dr. Jin-Ah Kim wurde über die Vielzahl von verschiedenen Beiträgen ein Resümee gezogen. Der in der Konzeption des Symposiums angestrebte Perspektivwechsel hin zu einer transkulturellen Musikforschung erfolgte in vielfältiger Art und Weise. So zeigten die Vorträge zum einen die Vielschichtigkeit der Verflechtungen auf dem Feld der transkulturellen Musikpraxis – deren Aufgabengebiet keineswegs erschöpft ist – und zum anderen aber auch, dass der methodologische Ansatz und die Grundfragen der transkulturellen Musikforschung konsequenter verfolgt bzw. ausgebaut werden könnten. Das Symposium führte insgesamt vor Augen, wie dicht die Gesellschaften und einzelnen kulturellen Akteure aus der Türkei und aus Deutschland miteinander verknüpft und verflochten sind. Die Forschung kann dabei gleichwohl lediglich als ein retrospektiver Prozess verstanden werden, da kulturelle Transferprozesse dynamisch zwischen den einzelnen Individuen stattfinden. Die Ergebnisse, die im Symposium zusammengetragen wurden, können damit als ein positiver und zukunftsweisender Auftakt einer transkulturellen Musikforschung gewertet werden. Eine Veröffentlichung der Vorträge wird derzeit vorbereitet.