Performing voice – Vokalität im Fokus angewandter Vokalitätsforschung

Bern und Basel, 27.-29.11.2014

Von Tom Rojo Poller, Berlin – 27.07.2015 | Die Stimme fasziniert seit jeher durch eine spannungsvolle Doppelnatur: Als anthropologisch basalem Phänomen scheint ihr eine subjektiv zugängliche, unmittelbar greifbare Qualität innezuwohnen, als Objekt der systematischen Reflexion entzieht sie sich aber gleichzeitig immer wieder eindeutigen theoretischen Festlegungen und Verortungen. Für Mladen Dolar, der mit seiner vielbeachteten Studie His Masterʼs Voice (Frankfurt a. M. 2007) eine von Lacan ausgehende philosophische Theorie der Stimme vorgelegt hat, hängt diese theoretische Uneinholbarkeit des Phänomens Stimme wesentlich mit der differenziellen Logik klassisch-moderner Theoriebildung zusammen, die dem, was sich am Phänomen Stimme nicht auf binäre Oppositionen reduzieren lässt, nicht beizukommen in der Lage sei (Vgl. auch Mladen Dolar: „Das Objekt Stimme“, in: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kulturgeschichte der Stimme, hrsg. von Friedrich Kittler u. a., Berlin 2002, S. 233–256; Dolar exemplifiziert seine These am Beispiel der Saussurschen Phonologie). Ähnliches ließe sich an Derridas Phonzentrismus-These nachvollziehen, welche ironischerweise gerade durch ihre Kritik an der Stimme diese wieder in das Interesse des philosophischen Diskurses gerückt hat. Es überrascht daher nicht, dass seit einigen Jahren in den Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften ein wachsendes Interesse am Phänomen Stimme zu verzeichnen ist, das genau diesem irreduziblen Rest nachzuspüren versucht und dazu eine Vielfalt von Perspektiven und Methoden bemüht, die nicht selten mit Figuren des Dritten, Dazwischen oder Interdisziplinären operieren. Die Musik stellt dabei immer wieder einen prominenten Anschauungs- und Reflexionsgegenstand dar, exemplifiziert sie doch besonders eindrücklich die oben angesprochene Doppelnatur der Stimme: „Musik“, so Dolar, „evoziert die Stimme und verbirgt sie, fetischisiert sie, aber öffnet auch die Kluft, die nicht gefüllt werden kann.“ (Dolar 2002, S. 237)

Als Versuch, sich dieser Kluft auf dem Feld zeitgenössischer Musik- und Musiktheaterpraxis anzunähern, kann die vom 27.–29. November in Bern und Basel veranstaltete Konferenz „performing voice – Vokalität im Fokus angewandter Vokalitätsforschung“ verstanden werden. Dass die Veranstaltung – als Gemeinschaftsprojekt der Hochschule der Künste Bern und der Hochschule für Musik Basel von Leo Dick und Anne-May Krüger initiiert und federführend organisiert – gleichermaßen als „internationales Symposium“ wie als „Festival“ angekündigt war, zeigt dabei bereits an, dass der skizzierten Perspektivenvielfalt auf das Phänomen Stimme durch eine interdisziplinäre Herangehensweise in weitem Sinne begegnet werden sollte. So standen an den drei dicht gedrängten Veranstaltungstagen neben zahlreichen Kurzreferaten sowie zwei Keynote-Vorträgen und Roundtable-Diskussionen, die den Gepflogenheiten wissenschaftlicher Konferenzen folgten, auch eine Reihe von künstlerischen Präsentationen bzw. Beiträgen mit künstlerischen Anteilen sowie zwei öffentliche Musiktheaterabende auf dem Programm. Durch diese konzeptionelle Reichhaltigkeit entspann sich zwischen den Beiträgen ein dichtes Beziehungsgeflecht, das gleichermaßen erhellende Potenziale wie mögliche Schwierigkeiten eines breit angelegten interdisziplinären Diskurses offenbarte. Dabei traten unterschiedliche Ausgangssituationen bereits innerhalb der beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen deutlich zu Tage, besonders zwischen der – quantitativ am stärksten vertretenen – Musikwissenschaft und anderen kunstwissenschaftlichen Fächern. So zeigte sich etwa die Tanzwissenschaftlerin Christina Thurner (Bern) am Anfang ihres Beitrags über den französischen Choreographen Jérôme Bel davon irritiert, dass in der Musikwissenschaft von der Einheit von Stimme und Körper als Regelfall ausgegangen wird, während diese im Tanz die Ausnahme darstellt. So demonstrierte Thurner am Beispiel einer Werkreihe Bels, dass in dessen Porträts einzelner Tänzer alleine der Stimmgebrauch der Ausführenden die Konventionen des Tanztheaters so stark durchbrechen, dass das Konzept alleiniger Autorschaft des Choreographen in Frage gestellt wird. Dass die Beziehung von Stimme und Körper auch in den anderen darstellenden Künsten in jüngerer Zeit immer wieder als spannungsvolles Verhältnis thematisiert worden ist, veranschaulichte die Theaterwissenschaftlerin Jenny Schrödl (Berlin) an verschiedenen Beispielen der Stimminszenierung (mikrophonierte akustische „Großaufnahmen“ von Stimmen ebenso wie chorische Auftritte oder solistische Schreitiraden). Dabei operierte sie u. a. mit dem von Michel Chion geprägten Begriff des „Acousmetre“, den auch Margarete Maierhofer-Lischka (Graz) ihren Überlegungen zu Chaya Czernowins Oper Pnima, in der mit der Operntradition der sichtbaren Einheit von singenden und handelnden Akteuren gebrochen wird, zugrunde legte. Doch auch wenn Lischka bei der Beschreibung der durch die Dissoziierung von akustischem und visuellem Phänomen entstandenen Stimmen als „auditive Akteure“ auf der „inneren Bühne des Hörers“ theoretische Konzepte der Theater- und Performancewissenschaft anwendete, so muss doch konstatiert werden, dass die beschriebene Wirkung des Konventionsbruchs bei Czernowin nicht in ähnlicher Weise radikal erfahrbar wird wie bei den von Schrödl und Thurner gegebenen Anschauungsbeispielen. Die hier problematisch aufscheinende Bedingung, dass die interdisziplinäre Übernahme von Begriffen und Konzepten die Mitreflexion ihrer Ursprungskontexte erfordert, setzte Leo Dick (Bern) in seinem Keynote-Vortrag als kritisches Potenzial ein. Denn indem er Vokalpartituren des Composed Theatre unter der Perspektive der visuellen Rhetorik beleuchtete und dazu das Konzept des „Ritualdesigns“ gebrauchte, wies er darauf hin, dass die Erhebung vieler Partituren des Composed Theatre zu quasi kultischen Objekten gleichermaßen aus der symbolischen Anreicherung konventioneller Notenschrift wie aus Strategien der (selbst- wie fremdgesteuerten) Autorinszenierung herrühren und dass so die Partitur ein Bestandteil in einem übergeordneten, oft zu unkritisch reflektierten soziokulturellen „Script“ wird.

Nicht nur durch seine interdisziplinäre Ausrichtung kann Dicks Vortrag als paradigmatisch für die Grundausrichtung der Konferenz stehen; auch seine Orientierung am vielbeschworenen „performative turn“ war in vielen anderen aus der Musikwissenschaft kommenden Beiträgen festzustellen. So beleuchtete etwa Wolfgang Gratzer (Salzburg) das Werk des österreichischen Stimmkünstlers Otto M. Zykan unter dem Aspekt der Interpretation eigener Werke durch den Autor und verglich Zykans außergewöhnlichen Versuch, die Fremdinterpretation bereits konzeptionell zu verhindern, mit anderen namhaften Performancekünstlern wie etwa Marina Abramović. Der Keynote-Vortrag von Thomas Seedorf (Karlsruhe), der den Standpunkt einer historisch informierten Interpretationsforschung vertrat, bestand aus zwei Teilen. In einem ersten Teil thematisierte er verschiedene historische Praktiken des Belcanto und konnte dabei zwei Aspekte pointiert herausarbeiten: zum einen dass die Tradition des Belcanto nicht verkürzt werden darf auf einen „schönen“, ungebrochenes ästhetisches Vergnügen anstrebenden Gesangsstil, sondern immer auch Formen des Hässlichen und Grotesken integrierte; zum anderen, dass viele Gesangselemente des Belcanto nicht oder nur rudimentär schriftlich fixiert waren und so Spielraum für orale Tradierung und individuelle Interpretationen eröffneten. Der Brückenschlag zum zweiten Teil des Vortrags, der aus einem teils überdetaillierten Vergleich verschiedener Interpretationen von Luciano Berios Sequenza III bestand, geriet hingegen weniger plausibel, da nicht ausreichend deutlich wurde, in welcher Weise das historische Wissen – über die Verortung in einem Traditionskontext hinaus – den analytischen Blick konkret bereichern kann. Dass ein produktiver Dialog der Interpretationsforschung nicht nur mit der Musikanalyse, sondern auch mit den Interpreten selbst nicht selbstverständlich ist, zeigte paradigmatisch die Diskussion nach dem Beitrag von Nicolas Isherwood (Rom). In diesem stellte der amerikanische Sänger anschaulich ein Kapitel aus seinem jüngst veröffentlichten Buch Die Techniken des Gesangs vor, das die Bandbreite zeitgenössischer Stimmbehandlung synoptisch darzustellen versucht. An dem Isherwoods gesangstechnischen Erläuterungen zugrunde liegenden Belcanto-Begriff entzündete sich daraufhin ein Disput zwischen Seedorf und Isherwood, der durch den Hinweis auf den offensichtlich unterschiedlichen Sprachgebrauch (die zeitgenössische Praxis bei Isherwood vs. ein historisch umfassendes Verständnis bei Seedorf meinend) leicht hätte geschlichtet werden können.

Das Zusammenspiel von künstlerisch-praktischer und theoretisch-reflektierender Perspektive stellte sich in anderen Fällen geglückter dar; so etwa in der Aufeinanderfolge des Wortbeitrags von Tom Rojo Poller (Berlin), der anhand eines Pionierwerks der sprachsynthetischen Computermusik, den Speech Songs von Charles Dodge, das kompositorische Potenzial computerbasierter Sprachsynthese auszuloten suchte, was in der anschließenden gemeinsamen Performance des Komponisten Steffen Krebber und des Ensembles „radikal translation“ (Köln) dann anschaulich aktualisiert wurde. Als Beispiel eines vertiefenden Verständnisses durch kontextuelle Erläuterung zu nennen wären auch die Ausführungen von Noah Pikes (Zürich) zu seinem Mentor Roy Hart, der in den 1960er-Jahren einen vollkommen neuartigen praktischen Umgang mit der menschlichen Stimme erprobte, der in der Folge zahlreiche Komponisten inspirieren sollte – so u. a. den britischen Komponisten Peter Maxwell Davies zu seinem 1969 entstandenen Musiktheater Eight Songs for a Mad King, das in einer Abendveranstaltung eindrucksvoll von Studierenden der Musikhochschule Basel dargeboten wurde.

Andere künstlerische Beiträge standen eher für sich, so etwa die Vokalakrobatik von David Moss (Berlin) in der Komposition The Bells von Stefan Litwin (Berlin), ebenso der ganz aus der Präsenz der Performerin lebende Gesangsbeitrag von Marianne Schuppe (Basel) und die ungleich extremere Vokalperformance von Jennifer Walshe (London), oder auch die musiktheatralischen Aufführungen, die auf dem Programm des Abschlussabends im Basler Gare du Nord standen: In Leo Dicks Komposition Naurutopia versuchte die Künstlergruppe „Weitwinkel“ die fremdartig vertraute Stimmungswelt einer fiktiven Südseeinsel mit den Mitteln des instrumentalen Theaters zu erschaffen; und dass die theatralischen, oft nicht explizit musikalisch-klingenden, in jedem Fall aber sehr eigensinnigen und originellen Theaterstücke des Schweizer Komponisten Hans Wüthrich auch nach zwanzig Jahren ihre Frische bewahrt haben, bewies die Umsetzung durch Studierende der Hochschule der Künste Bern.

Den beiden abschließenden Aufführungen vorausgegangen war eine Performance von Peter Ablinger (Berlin), die verschiedene der teils unüberschaubar vielen Aspekte, die im Laufe der drei Tage zur Gesamtthematik Stimme und Vokalität aufgeworfen worden waren, mit einfachen Mitteln und sehr treffend auf den Punkt brachte. So las Ablinger seinen Text „Das Wirkliche als Vorgestelltes“ vor, wobei Ablingers Stimme durch zugespielte Rauschspektren so überlagert wurde, dass gewisse vokale Frequenzbänder maskiert wurden und andere – wie durch akustische Fenster gerahmt – umso prägnanter durchhörbar blieben. Das akustische Ergebnis bewegte sich zwischen Textsemantik und reinem Sprachklang, zwischen personell-vokaler Identität und abstrakter Dissoziation, zwischen kognitiver Intelligibilität und sinnlicher Anschaulichkeit und verlangte zu jeder Zeit die wahrnehmende und konstruierende Aktivität des Zuhörenden. Derart wurde ein Zwischenzustand erahnbar, der dem, was Dolar als „Kluft“, als irreduziblen Rest von Stimme beschreibt, vielleicht nahe kommt. Eine Antwort, wie diese Kluft theoretisch zu füllen oder zu überspannen sein könnte, konnte die Konferenz „performing voice“ freilich nicht liefern, zahlreiche Fragen und Ansätze dazu hat sie aber in jedem Fall angeregt.