Komposition und Musiktheorie in China seit 1949

Wien, 15.-16.01.2016

Von Tycho Brodersen, Wien – 15.02.2016 | Das am Institut für Komposition und Elektroakustik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ausgerichtete Symposium war Teil eines von der österreichischen Stiftung Eurasia Pacific Uninet (EPU) geförderten Projekts zu Wanderbewegungen musiktheoretischer Denkweisen von West nach Ost (Titel des Gesamtprojekts: „The Cultural Transfer of Central European Music Theory to China“). Kooperierende des Projekt waren die Musiktheorieabteilungen dreier Hochschulen, vertreten durch Gesine Schröder (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien), Cheong Wai-Ling (The Chinese University of Hong Kong) und Zhang Wei (Konservatorium Shanghai). Nach vorausgegangenen Symposien in Hongkong (Jänner 2014) und Shanghai (April 2015) stand bei dem nunmehr dritten und letzten Teil des Projekts die neuere Geschichte der Kompositionstechnik und der Musiktheorie in China im Zentrum, darunter auch Aspekte des Hochschulfachs Harmonielehre. Untersucht wurde, inwieweit allgemein Kulturpolitisches bis in musiktheoretische und kompositorische Konzepte hineinragt. Durch das Studium des zeitgenössischen musiktheoretischen Schrifttums konnte aufgezeigt werden, dass dieses zwischen 1949, dem Jahr der Gründung der Volksrepublik China, bis Ende der Kulturrevolution Mitte der 1970-Jahre politischen Wendungen deutlich, aber mit einer erwartbaren Trägheit und eher pauschal folgte. Daneben wurden zirkuläre und zur Situation in China parallele Phänomene diskutiert: Was erträumten sich linksgerichtete Musiker in Europa von einem kulturrevolutionären China im Bereich der Musik? Und mit welchen kompositorischen Konzepten suchten Komponisten, die im mittleren Europa am Rande des Eisernen Vorhangs lebten, nach der Realisierung einer lokal bestimmten musikalischen Identität? War ihre Suche mit derjenigen vergleichbar, auf die man jenseits der südöstlichen Grenze der Sowjetunion hätte stoßen können?

An dem Symposium nahmen fünf Vortragende aus Shanghai, fünf aus Hongkong bzw. Suzhou, vier aus Wien bzw. Belgrad und schließlich zwei Gäste aus Köln und Heidelberg teil, die nicht an die kooperierenden Institutionen gebunden sind. Während sich John Lam Chun Fai (Hongkong) in seinem Symposiumsbeitrag der Vorgeschichte einer modernen Rezeption chinesischer Musik und Musiktheorie in Europa widmete, konzentrierten sich fünf andere Redner auf den Umgang mit der – als chinesisch deklarierten – Pentatonik und deren Interaktion mit anderen Mengen von Tonhöhenklassen. Jiang Zhigou (Shanghai) sprach über die systematische Fundierung des Pflichtfachs „Pentatonische Harmonielehre“ und skizzierte, wie sich die Geschichte dieser Disziplin in chinesischen Lehrbüchern darstellt. Es wurde deutlich, dass man mit der Betrachtung von Tonhöhenverhältnissen ästhetisch wesentliche Aspekte einer von westlichen Elementen unberührt gebliebenen chinesischen Musik wie das Timbre, die Tonflexion oder die eigenartige Zeitkoordination der instrumentalen Begleitung mit dem Gesang leicht aus dem Blick verliert. Die Shanghaier Nachwuchsforscher Zhou Mingkun und Zheng Ququ präsentierten je eine Zusammenfassung der chinesischen Studien zur Pentatonik und zu deren Kombination mit dodekaphonen Schreibweisen. Kontrapunktierend wirkten Vorträge von John Lai Hei Yeung und Eric Lo Kai Yin (beide Hongkong). Ersterer sprach über den Einschluss pentatonischer Elemente in dodekaphone Werke chinesischer Komponisten um 1980, letzterer diskutierte die zahllosen Transformationen dreitöniger, als Extrakte pentatonischer Skalen verstehbarer Tonverbindungen in Werken des Hindemith-Schülers Tan Xialin.

Cheong Wai-Ling und Hong Ding (ebenfalls Hongkong bzw. Suzhou) boten Einblicke in die Geschichte der mit dem Anspruch auf überlokale Gültigkeit auftretenden Disziplin Harmonielehre in China. Sie zeichneten nach, auf welche Weise aus der Sowjetunion importierte Methoden der Harmonieanalyse, die sich wiederum als Transformationen von Theorien des belgischen Musikologen François-Auguste Gevaert und Hugo Riemanns verstehen lassen, sinisiert wurden. In einem bestimmten Stadium – während der Eiszeit zwischen der Sowjetunion und China ab Mitte der 1960er-Jahre – zog man für Exempel von Akkordverbindungen und Stimmführungsphänomenen nur noch neu komponierte Musik chinesischer Komponisten heran.

Zhang Wei (Shanghai) wagte mit seinem Beitrag den Schritt in die Gegenwart. Er erläuterte die Tonhöhenkonstruktion und rhythmischen Überlagerungen in zwei Klavierstücken des chinesischen Komponisten Chen Xiaoyong, eines seit dreißig Jahren in Deutschland lebenden Ligeti-Schülers. Dieses Beispiel für eine nicht mehr pentatonische Schreibart beeindruckte durch die kompositionstechnische Virtuosität und durch seine nervöse und feine Weise, in der es eine nationale oder ethnische musikalische Identität unbestimmt ließ.

Die Beiträge von europäischer Seite waren in zwei Fällen Musik gewidmet, die von Europäern stammt. Peter Tiefengraber (Wien) sprach über die auf einem alten chinesischen Sujet basierende Oper Der lange Weg zur großen Mauer (1974) des österreichischen Komponisten Kurt Schwertsik. Es ist schwer zu entscheiden, ob Schwertsiks Interesse an dem chinesischen Sujet politisch motiviert war oder ob es sich – womöglich über die Vermittlungsstation Bertolt Brecht – um die späte Frucht einer aus den Jahren des Fin de Siècle stammenden Wiener Chinoiserie handelt, die sich in Kompositionen Gustav Mahlers, Anton von Weberns oder Hans Gáls gezeigt hatte.

Nikola Komatovic (Wien/Belgrad) zog eine Parallele zwischen der Situation in Südwesteuropa und der im frühen kommunistischen China. Er stellte dar, welche ästhetische Position serbische Opern in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ästhetisch einnahmen. Den Forderungen des sowjetischen sozialistischen Realismus konnte man sich im Serbien jener Jahre offenbar weitgehend entziehen, um gleichwohl panslawische Produkte abzuliefern, die irgendwie nach Mussorgskij klingen. Komatovic zufolge diente der Gebrauch modaler Elemente und fünfzeitiger Taktarten statt der Konstruktion einer serbischen oder jugoslawischen musikalischen Identität als Element, das entweder mit einem gewissen Exotismus fremde Länder darstellen sollte oder das auf eine Musik längst vergangener Zeiten hinwies (wie bei der Nutzung von Fragmenten antiker griechischer Musik in Svetomir Nastasijevićs Oper Antigone von 1954).

Frieder Reininghaus (Köln/Wien) gab einen von persönlichen Erinnerungen angefüllten Einblick über das nach der Studentenrevolte von 1968 auftauchende Faible für das China der damaligen Gegenwart und dessen Fortleben während der radikal linken frühen 1970er-Jahre in Westdeutschland und Westberlin. Spätestens seit den Aufführungen von staatlicherseits zurechtgestutzten Peking-Opern im Berliner Theater des Westens sei deutlich geworden, wie weit der Wunschtraum von einem auch musikalisch kulturrevolutionären China und die Realität voneinander abwichen. Beiträge zweier weiterer in Europa lebender Forscherinnen streiften die Musik und das Musikdenken Festland-Chinas nurmehr: Odila Schröder (Heidelberg) präsentierte einen Teil ihrer Studie über Unterschiede zwischen Konzertprogrammen in Ost und West. Am Beispiel von Programmen der New Yorker Philharmoniker zeigte sie, dass die Werke bestimmter Komponisten anders verbunden werden, wenn das Orchester sich auf eine Asien-Tournee begibt, als wenn man Stücke für Konzerte im Herkunftsland des Orchesters zusammenstellt. Die bei Asien-Tourneen – wegen oder sogar trotz der ästhetischen Differenz – beliebte Kombination von Highlights wie beispielsweise Brahms und Tschaikowski kommt in Konzerten vor Ort kaum vor; Brahms wird dort eher mit mitteldeutschen Romantikern wie Mendelssohn oder Schumann kombiniert. Die Frage, wie musikalische Identität von einem chinesischen Komponisten außerhalb Festland-Chinas konstruiert wurde, warf Huang YuChun (Wien/Taipeh) schließlich mittels ihrer Analyse einer Fuge von Hsu Tsang-Houei auf. Der taiwanesische Komponist, der in Paris studiert hatte, verwandelte sich die als schwierig geltende fugale Schreibweise an, indem er Verfahren wie die Gewinnung der Einsatztöne von Dux und Comes aus dem Thema selbst sowie die Übertragung der aus der chinesischen Kalligraphie entlehnten Präsenz von Leere in eine originär vielstimmige Schreibart zur Anwendung brachte, aber auch, indem er Spielweisen der chinesischen Zupfinstrumente Guqin und Pipa auf das Klavierspiel übertrug.

Wie in einem Ausblick zum Beschluss des Symposium angekündigt wurde, sollen dem Projekt zur Erforschung von Veränderungen neuerer west- und mitteleuropäischer Musiktheorien und Kompositionstechniken auf ihrem Weg in den Osten Untersuchungen zu anderen Ländern folgen. Die Online-Publikation der Symposiumsbeiträge ist auf den Weg gebracht.