International Winterschool Digital Musicology – Digitalisierung in der Musikwissenschaft

Tübingen, 18.-19.11.2016

Von Anna Plaksin, Darmstadt – 18.01.2017 | Wie verändert sich das Fach Musikwissenschaft in seinen Methoden und Inhalten unter dem Einfluss der Digital Humanities und der Digitalisierung im Allgemeinen? Welche Auswirkungen hat dieser Wandel auf Lern- und Lehrmethoden sowie berufliche Perspektiven? Im Rahmen der zweitägigen Winterschool „Digital Musicology“ (Organisation: Stefan Morent mit Thomas Schipperges und Matthias Lang/Universität Tübingen in Verbindung mit Rainer Bayreuther/Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg, finanziert im Rahmen der Exzellenz-Initiative der Universität Tübingen) wurden bewusst die generellen Fragen nach Ausrichtung und Umbrüchen des Fachs im Kontext des allgegenwärtigen Digitalen Wandels in den Blick genommen, zum einen in Form einer aktuellen Standortbestimmung, zum anderen in Hinblick darauf, wie eine zukünftige Ausrichtung diesem Spannungsfeld gerecht werden kann. Projektvorstellungen und Impuls-Referate zu verschiedenen Themenkomplexen sollten hierbei bewusst ein breites Spektrum abdecken. Besonders darauf geachtet wurde von den Organisatoren zudem, dass den Diskussionen von Beteiligten und Publikum ein angemessen großer Raum geboten wurde.

In der ersten Sektion „Standortbestimmung des ‚Digitalen‘ in Musik und Musikwissenschaft“ wurden zunächst generelle Fragen der Auswirkungen der Digitalisierung auf das Fach behandelt. Diese zeigen sich nicht nur im Einfluss der Digitalisierung auf das geisteswissenschaftliche Arbeiten, sondern auch in der Frage, was Gegenstand des Faches sein kann. Der Beitrag „Digitale Historische Musikwissenschaft: Eine prekäre Disziplin“ von Reiner Nägele (München) entstammt den Erfahrungen des „Fachinformationsdienstes Musikwissenschaft“. Während in den systematischen und musikethnologischen Bereichen der Disziplin digitale Angebote auf Interesse stoßen und auch aktiv mitgestaltet werden, so konstatierte er, tue sich die Historische Musikwissenschaft schwer. Als Ursache nannte Nägele ihre Ausrichtung als kompositionsgeschichtlich orientierte Disziplin, deren Fundament in einer hermeneutischen Ontologie einen unüberwindbaren Gegensatz zum Primat stochastischer Methoden darstelle. Weiterhin bemerkte er auch einen zunehmenden Wandel in der Quellensicherung, die sich zunehmend nach tagesaktuellen Interessen richte. Rainer Bayreuther (Trossingen) beleuchtete in seinem Beitrag „Digitale Musikwissenschaft für digitale Musikkultur“ den Wandel im Umgang mit Arbeitswerkzeugen und dessen Auswirkungen auf den zugrundeliegenden Geschichtsbegriff. Ausgangspunkt für seine Ausführungen ist ein Gedankenexperiment einer Suchmaschinenabfrage zweier Personen zum selben Thema, das zeigen soll, wie moderne Suchalgorithmen die Geschichtlichkeit einer Information anhand der gespeicherten individuellen Suchgeschichte jeweils neu konstruieren. Dagegen thematisierte Rolf Grossmann (Lüneburg) die Verortung des Digitalen in seinem Beitrag „Gibt es digitale Musik?“ nicht von der Methodik eines Faches ausgehend, sondern vom Gegenstand selbst. In einem Abriss über die Entwicklungsgeschichte der Phonographie hin zur computerbasierten Produktion und Rezeption von Musik zeigt er, dass es sich nicht nur um einen Wechsel des Mediums handelt, sondern vor allem um einen kulturgeschichtlichen Wandel der Gestaltungsstrategien und Rezeptionsweisen, an dessen Anfang wir erst stehen.

Die zweite Sektion wendete diese sehr grundsätzlichen Diskussionsschwerpunkte hin zur Frage nach Digitalen Methoden der Musikwissenschaft in Studium und beruflicher Praxis.
Die Referenten Robert Klugseder (Wien) sowie Kate Helsen (Ontario) und Inga Behrendt (Tübingen) präsentierten praxisnahe Fallbeispiele. Klugseder stellte zwei Projekte – „CANTUS Network“ und ein Projekt zur automatisierten Harmonieanalyse am Beispiel von Kompositionsstudien Anton Bruckners – aus dem Kontext der Österreichischen Akademie der Wissenschaften der Schilderung seiner Erfahrungen im Bereich der Lehre entgegen, um hieraus Beobachtungen über die Veränderung von Arbeitsprozessen und damit einhergehende Herausforderungen zu beleuchten. Helsen und Behrendt kontrastierten dies mit einem eindrücklichen Bericht über die Arbeit des „Optical Neumes Recognition Project“. Ausgehend von den geschilderten Fragestellungen, stellten sie einen Ansatz zur Beschreibung der jeweiligen Parameter von Neumen sowie zur Nutzbarmachung von maschinellen Lernverfahren in einem Klassifikationsworkflow vor.

Der zweite Tag begann mit einer offenen Präsentation externer Projekte von Nachwuchswissenschaftlern, bevor sich dann die dritte Sektion den digitalen Methoden in der älteren Musikgeschichte widmete. Für Stefan Morent (Tübingen) ist die Überlieferungsgeschichte des Gregorianischen Chorals der Ausgangspunkt für das von ihm vorgestellte Projekt „eChant“. Während die Überlieferung, begründet auf der Gregorslegende und der Sanktionierung von Abweichungen in der Gesangsnorm, von einheitlicher Kontinuität sein sollte, zeigt sich die tatsächliche Situation im Detail vielfältig und divergent. Da herkömmliche Editionsmethoden dies methodisch bisher nicht greifbar machen konnten, ist es das Ziel von eChant, die verschiedenen Stufen der Choralüberlieferung in ihrer Diversität rekonstruieren und zugänglich machen, um so erstmals Zugriff auf eine zentrale Problemstellung in der Musik des Mittelalters zu ermöglichen. Der Ausgangspunkt von Jason Stoessels (Armidale) Beitrag „The Relevance of Digital Humanities to Music Data Analysis for the Late Middle Ages/Renaissance” stellte ein Beitrag von Nicholas Cook dar, der ungefähr vor einer Dekade in computerbasierten Methoden eine signifikante Möglichkeit für eine Erneuerung der Musikwissenschaft sah. Von diesem ausgehend präsentierte Stoessel eine Standortbestimmung für den Bereich der Musik des Mittelalters und der Renaissance und benannte spezifische Problemfelder des Gegenstandes. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Tools zur Musikanalyse und stellte mit CATSMAT eine eigene Toolbox vor, die speziell auch den Bedürfnissen kontrapunktischer Musik Rechnung tragen soll. Andrew Hankinson (Montréal/Oxford) widmete seinen Beitrag „Music searching and analysis from the SIMSSA project“ den Herausforderungen bei der Entwicklung von Abfragesystemen für notierte Musik. Die Frage „Was ist eine Suchanfrage für Musik?“ diente hierbei als Ausgangspunkt von Ausführungen, die auf zahlreichen Erfahrungen aus der Praxis beruhen. Einerseits wurden aktuelle Ansätze und Möglichkeiten vorgestellt, anderseits aber die Mehrdimensionalität von Musik als zentraler Eigenschaft in den Fokus genommen, die Entwicklungen notwendigerweise sehr viel komplexer macht als es für Text notwendig ist.

Mit der praktischen Anwendung digitaler Methoden und deren Konsequenzen beschäftigten sich in der letzten Sektion Urs Liska (Freiburg) und Matthias Lang (Tübingen). Liska beleuchtete in seinem Beitrag den Nutzen von Anwendungen, die ursprünglich aus der Softwareentwicklung stammen, für das musikwissenschaftliche Arbeiten und speziell im Kontext digitaler Musikedition. Durch den Einsatz von textbasierten Anwendungen und Versionskontrollsystemen – erläuterte Liska – lassen sich Peer-Review-Workflows und crowdbasierte Ansätze verwirklichen, die Projekte effizienter gestalten können sowie zu einer fruchtbaren Form gemeinschaftlicher Zusammenarbeit führen. Den Blick auf die Arbeitsweisen anderer Disziplinen und grundlegende Fragestellungen zu Infrastruktur und Datenpersistenz, die digitale Forschungsmethoden mit sich bringen, bot Matthias Lang. Um eine nachhaltige Speicherung und langfristige Zitierbarkeit zu gewährleisten, sei es wichtig, sich bereits vor Projektbeginn mit dem Verbleib der Daten nach dem Projektende zu beschäftigen, gezielt Anforderungen zu analysieren und auf standardisierte Technologien zu setzen, um so einen „research data curation lifecycle“ zu ermöglichen.

Die Diskussionsrunden jeweils am Ende der Sektionen lieferten Raum für rege und kontroverse Gespräche, deren Themen so vielfältig waren wie das Programm der Veranstaltung. Besonders hervorgehoben sei an dieser Stelle die große Vielfalt an Perspektiven, die durch die Beteiligten eingebracht werden konnten. Zudem wurde deutlich, dass der Einfluss digitaler Methoden auf die Musikwissenschaft immer stärker wird, auch wenn sich das Fach derzeit noch in einer Pionierphase befindet. Letztendlich einte alle Beteiligten die Überzeugung, dass es darum gehen muss, diesen Wandel konstruktiv zu gestalten. Die Beiträge der Referenten werden im Online-Journal der Gesellschaft für Musikgeschichte Baden-Württemberg zeitnah veröffentlicht.