Erschließen, Forschen, Vermitteln. Musikkulturelles Handeln von Frauen zwischen 1800 und 2000

Goslar, 04.-06.04.2019

von Jörg Holzmann, Leipzig – 22.09.2019 | Die internationale Tagung fand unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Rode-Breymann und Dr. Nicole K. Strohmann (beide Hannover) in Wöltingerode statt, einem ehemaligen Benediktiner- und dann Zisterzienserinnenkloster. Nach der Begrüßung durch Rode-Breymann bot Nicole K. Strohmann einen Überblick über das von ihr geleitete interdisziplinäre Projekt zum Thema der Tagung und veranschaulichte, wie bei dieser die Projektziele mit drei korrelierenden Themenfeldern verknüpft werden sollten: mit der XML-TEI basierten Tiefenerschließung von historischem Quellenmaterial, der daran anschließenden wissenschaftlichen Auswertung und den Möglichkeiten, die sich bei Einbeziehung der Digital Humanities ergeben, wie etwa der Erstellung digitaler Editionen.

Die erste Sektion befasste sich mit der Thematik der Mobilität. Im eröffnenden Vortrag wies Jochen Oltmer (Osnabrück) gleich eingangs darauf hin, dass Mobilität und Migration bei weitem nicht identisch seien, wenngleich in Deutschland eher eine Art der Integrations- anstelle einer Migrationsforschung betrieben werde, die sich streng genommen nicht mit der Bewegung von Menschen durch verschiedene geographische Räume befasse. Anschließend wurden Arten der Motivation zur räumlichen Veränderung beleuchtet, wobei das Überschreiten staatlicher Grenzen kein Selbstzweck sei, sondern der Erschließung von Handlungsmacht und dem Vermeiden von Gewalt diene, wobei Armut und extreme Gewalt entgegen der landläufigen Meinung Migration eher verhinderten als auslösten. Wichtige Faktoren seien auch überregional verwendbare Ressourcen wie beispielsweise international anerkannte Schulabschlüsse oder funktionale Netzwerke, wie etwa familiäre Anlaufstellen in der Zielregion. Anschließend zeigte Nicole K. Strohmann auf, welche Relevanz die genauere Betrachtung von Mobilität für die musikwissenschaftliche Forschung haben kann. Anhand verschiedener Fallbeispiele, wie etwa dem Briefwechsel zwischen Cosima Wagner und Karl Krauss, beleuchtete sie das Forschungs- und Erkenntnispotenzial der Analysekategorie Mobilität im Sinne einer geografischen und sozialen Konnotation des Begriffs. Von besonderem Interesse sei weiter der Einfluss, den die Bewegung durch verschiedene Räume auf künstlerische Entwicklung und Konstruktion der eigenen Identität habe. Allerdings dürfe sich die Erforschung von Mobilität nicht nur auf die KünstlerInnen erstrecken, sondern müsse auch Musikalien wie Partituren oder Instrumente mit einschließen, da auch zu Proben vorausgeschicktes Notenmaterial oft erhebliche und aufschlussreiche Wege zurücklege.

Anhand zweier exemplarischer Biografien zeigte Claudia Chibici-Revneanu (Léon, Mexiko) auf, dass Migration und Exil keinesfalls immer mit Verlust einhergehen müssten. Sowohl Emiliana de Zubeldía als auch María Teresa Prieto waren von Spanien nach Mexiko ausgewandert und hatten auf diese Weise durch die Verschmelzung der musikalischen Einflüsse beider Länder, ja Kontinente zu einer eigenen musikalischen Sprache gefunden und dies- wie jenseits des Atlantiks einflussreiche, wenn auch von Männern dominierte, Netzwerke aufbauen können.

Als einem inzwischen aus dem Kontext des professionellen Konzertwesens nicht mehr wegzudenkenden Faktor widmete Jutta Heise (Hannover) ihren Vortrag dem Einfluss von Künstleragenturen auf die Mobilität von Instrumentalistinnen. Durch die individuelle Betreuung ergebe sich für die Künstlerinnen neben der Konzentration auf die künstlerischen anstelle der organisatorischen Aspekte der musikkulturellen Tätigkeit eine größere Freiheit im außerberuflichen Bereich. Dass sich dies insbesondere in der Familienplanung niederschlägt, ist nicht zuletzt auch nachvollziehbar durch den überaus hohen Anteil an weiblichen Mitarbeiterinnen, belegt durch Zahlen aus Deutschland und Großbritannien. Daraus resultierend müssten auch die Agentinnen selbst als kulturell handelnde Personen angesehen werden.

Die mit „Erschließen und Vermitteln“ betitelte zweite Sektion der Tagung wurde von Stefanie Acquavella-Rauch (Mainz) mit grundsätzlichen Überlegungen zu Digitalität in der Musikwissenschaft eröffnet, wobei sie auf die Funktion dieses mehrdimensionalen Konstrukts gleichermaßen als Gegenstand und als Mittel der Forschung hinwies und dabei insbesondere auf die Transformation von Arbeitsprozessen wie der Datenerfassung, Datenauswertung und Darstellung durch die Erweiterung um eine digitale Dimension einging. Anne Fiebig, Viola Herbst und Katharina Talkner (alle Hannover) erläuterten die Leitfrage des gastgebenden Forschungsprojekts, welche musikalisch handelnden Frauen wie, wo, warum und unter welchen Umständen zur Musikkultur im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts beigetragen haben. Es folgte eine Einführung in die Arbeitsprozesse des Erfassens, Beschreibens und Transkribierens mit Mitteln der Digital Humanities, wie etwa XML oder TEI-P5, und eine Beschreibung des sehr heterogenen Quellenmaterials, das sich unter anderem aus Albumblättern, Visitenkarten, Briefen und verschiedenen Bildquellen zusammensetzt. Abgerundet wurde die Präsentation von ausgewählten Visualisierungsmöglichkeiten der Ergebnisse. Von Thorsten Schaßan (Wolfenbüttel) wurden die Arbeitsweisen der digitalen Geisteswissenschaften vertiefend vorgestellt, wobei er vor allem auf Organisation und Strukturierung der Daten an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel einging, auf deren Web-Präsenz die digitale Edition des Forschungsprojekts publiziert wird. Durch eine detaillierte Beschreibung der Funktionalität von digitalen Editionen, deren Potential, aber auch den Anforderungen, die diese an Geisteswissenschaftler stellen, wurde auch bei diesem Vortrag die Wechselwirkung von Präsentation und Erkenntnis mehr als deutlich. Weiteren Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Musikwissenschaft und Bibliotheken ging Barbara Wiermann (Dresden) nach, indem sie bereits verwirklichte oder in Umsetzung befindliche Projekte und Kooperationen der Musikabteilung der SLUB Dresden vorstellte. Die Weiterentwicklung bereits vorhandener Infrastrukturen wie gemeinsamer Normdaten wurde genauso thematisiert wie erst im Entstehen begriffene Tools zum Umgang mit größeren Datenkorpora.

Die folgenden Posterpräsentationen zeigten erneut die große Bandbreite der Forschungsfragen, die sich bei der Beschäftigung mit der Netzwerkforschung und dem musikkulturellen Handeln von Frauen ergeben. Constanze Köhn (Wien) ging in ihrem Beitrag der Gastspielplanung und den Briefwechseln der Musikerin, Schauspielerin und Theaterdirektorin Marie Geistinger nach und fügte diesen Berufsbezeichnungen noch die der Agentin hinzu. Anhand der Erschließung einer Damenensemble-Postkartensammlung demonstrierten Felisa Mesuere (Hannover) und Anna Ricke (Köln) zwei Themenkomplexe: zum einen die Selbstinszenierung und damit einhergehende Identität solcher Ensembles, die Bildpostkarte als Quelle andererseits. Im Mittelpunkt der Präsentation von Susanne Borchers (Hannover) standen die Frauennetzwerke und der Teilnachlass Edith Gerson-Kiwis (1908–1992) sowie die Frage nach Analysekategorien für ein Netzwerk mit so vielen Facetten wie dem der hier vorgestellten jüdischen Musikwissenschaftlerin und Pianistin, die zur Emigration gezwungenen worden war. Mikchail Kuchersky (Essen) gewährte Einblick in die Identität Anna Milder-Hauptmanns, indem er ausgehend von Briefen an Carl Friedrich Zelter sowohl die Beziehung zu jenem als auch die Selbstwahrnehmung der Sängerin charakterisierte. Claudio Bacciagaluppi stellte in Vertretung für Laurent Pugin und Rodolfo Zitellini (alle Bern) zwei Computer-Programme vor, die zur Erschließung der Rolle von Frauen im musikalischen Leben der Schweiz im Zeitraum 1800–1918 dienen: zum einen Muscat, eine von der Schweizer RISM-Abteilung entwickelte Software auf Open-Source-Basis zur Katalogisierung und Publikation musikalischer Quellen, zum anderen das Programm OnStage, das unter Verwendung der OCR-Technologie Konzertprogramme zur Volltextsuche zur Verfügung stellt.

Die Sektion „Netzwerke“ wurde von Maren Bagge (Hannover) mit einem Vortrag über die Analyse von Netzwerken und deren Wert für die musikhistorische Forschung eingeleitet. Einen zentralen Aspekt bildete dabei die Anwendung soziologischer Netzwerktheorien wie die Migrationsforschung, die Wirtschaftsgeschichte, Zitationsnetzwerke und verdeckte Netzwerke wie beispielsweise Organisationen, die im Untergrund agieren. Nach einem Überblick über die im Forschungsprojekt angewandten Standards zur Datenerhebung lag der Fokus auf der Erschließung von Albumblättern. Am Beispiel der Balladenkomponistin Claribel wurden zusätzlich Quellen aus der Sammlung des Forschungszentrums beleuchtet. Dass sich auch zerstörte Netzwerke beziehungsweise deren Rekonstruktion für aufschlussreiche Forschungen eignen, zeigte Christina Richter-Ibañez (Tübingen) anhand der Vita von Freya Wolfsbruck (1893–1973), die als im NS-Regime verfolgte Musikerin nach Südamerika emigriert war. Aus ihrer Entschädigungsakte und ihren brieflichen Repliken geht noch 1958 deutlich hervor, wie groß die Diskrepanz zwischen dem Wirken und der Wahrnehmung des musikkulturellen Handelns von Frauen mitunter ausfiel und ausfällt. Ein anders gelagertes Beispiel stellt die nach Brasilien ausgewanderte Sängerin Hilde Sinnek dar, die, einst in Bayreuth gefeiert, auch in ihrer neuen Heimat musikalisch aktiv war. Auf Spurensuche im Pariser Musikleben zwischen 1940 und 1950 begab sich Imke Misch (Hannover), indem sie die musikkulturelle Handlungsmacht von Frauen nachzeichnete und anhand der Vita der Pianistin Yvette Grimaud exemplarisch die wechselvolle Rezeptionsgeschichte französischer Musikerinnen der Zeit illustrierte. Obwohl sie teils maßgeblich zur Entwicklung des kulturellen Lebens beitrug, zahlreiche Werke namhafter Komponisten wie Pierre Boulez zur Uraufführung brachte und sowohl als ausführende Musikerin als auch in der Position einer der ersten Professorinnen für Musikethnologie von sich reden machte, blieb ihre Spur in den historiographischen Darstellungen jener Zeit schwach.

Die vierte und letzte Sektion der Tagung war der Frage nach der Identität gewidmet. Die Philosophin Cordula Brand (Tübingen) nahm sich der Frage nach Identität und Integrität an, erläuterte philosophische, psychologische und ethische Perspektiven von der Antike bis zur Gegenwart und verdeutlichte am Beispiel Nina Hagens, von welchen Bedeutungsdimensionen (künstlerische) Integrität bestimmt wird – beispielsweise Selbsttreue, Rechtschaffenheit, Kohärenz und Ganzheit. Unter Einbeziehung der Eigenverantwortlichkeit von Künstlern ließen sich noch weitere Kategorien wie etwa das Vorhandensein existenziell wichtiger Anliegen oder die Bereitschaft zur Anerkennung von Widersprüchen bei gleichzeitiger Lösungsorientierung ins Feld führen. Einen noch stärker auf Biografik angelegten Ansatz verfolgte Ellan Lincoln-Hyde (Peking). Sie befasste sich mit der australischen Opernsängerin Marjorie Lawrence (1907-1979), die ab 1941 infolge einer Polioerkrankung von der Hüfte abwärts gelähmt war, und den ganz unterschiedlichen Folgen, die dies für ihre Karriere hatte. Ebenfalls eine einzelne Künstlerin rückte Marleen Hoffmann (Frankfurt) ins Zentrum ihrer Ausführungen, indem sie der auktorialen Überlieferungstradition von Werk und Selbstbild von Ethel Smyth nachging. Die englische Komponistin war nicht nur in Druck- und Probenprozesse direkt involviert, engagierte sich politisch und pflegte ihre Netzwerke, sondern trat auch mit mehreren Autobiografien an die Öffentlichkeit und versuchte dadurch ihre Interpretation und Rezeption zu beeinflussen und steuern.

Beschlossen wurde die Tagung von Gesa zur Nieden (Greifswald/Hannover), die in ihrem Vortrag einem fluiden Identitätsbegriff anhand von Wagner-Sängerinnen um 1900 nachging. Diese versuchten ihre Identitäten auf unterschiedlichste Weise zu schärfen. Die Betonung oder Übersteigerung persönlicher Eigenschaften und auch Eigenheiten diente dazu genauso wie ein vielleicht als personalisierend zu bezeichnender Umgang mit dem Notentext. Beispielhaft behandelte sie hierfür Elise Kutscherra und Lilli Lehmann anhand ausgewählter Zeichnungen und Publikumskritiken, denen ein humoristischer Unterton oft nicht fehlte.