Friedrich Karl Joseph von Erthal und das Mainzer Musikleben im späten 18. Jahrhundert

Mainz, 14.09.2019

Von Philipp G. H. Schmidt, Mainz – 24.11.2019 | Anlässlich des 300. Geburtstags des vorletzten Mainzer Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal veranstalteten die Abteilung Musikwissenschaft des Instituts für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und die Arbeitsgemeinschaft für mittelrheinische Musikgeschichte eine Tagung im Erthaler Hof in Mainz. Wie Klaus Pietschmann (Mainz) in seinem Eröffnungsvortrag zeigte, fallen in Erthals Regierungszeit (1774–1802) nicht nur zahlreiche Reformen; mit der Gründung des Nationaltheaters und mit Akteuren wie Vincenzo Righini oder Franz Xaver Sterkel handelte es sich zudem um eine besonders erfolgreiche Periode der Mainzer Musikkultur. Trotz erschwerter Forschungsbedingungen – relevante Quellen sind in Archiven über ganz Europa verstreut – wurden gerade in den letzten Jahren zunehmend Untersuchungen zu diesem Themenfeld unternommen, deren Ziele und Ergebnisse im Rahmen der Tagung präsentiert werden konnten.

Einen Einblick in das breite Tätigkeitsfeld Vincenzo Righinis, der von 1788 bis 1793 als Hofkapellmeister unter Erthal beschäftigt war, gab Fabian Kolb (Mainz/Heidelberg) mit seinem Beitrag „Musik für Kaiserkrönungen und Primadonnen – zum musikalischen Profil des Mainzer Hofkapellmeisters Vincenzo Righini“. Es wurde gezeigt, wie Righini einige seiner früher komponierten Werke den nun veränderten Bedingungen anpasste, unter anderem am Beispiel seiner Oper Armida (Erstaufführung Wien 1782), die er für spätere Aufführungen in Aschaffenburg, Mainz und Frankfurt (1788 und später) um einige Chornummern erweiterte. In der für die Krönung Leopolds II. geschaffenen Messe in d-Moll (1790) konstatierte Kolb charakteristische kompositorische Merkmale, die Righinis zuvor gewonnene Erfahrung mit dem Wiener Messrepertoire erkennen lassen.

Einen plastischen Eindruck von der persönlichen Wahrnehmung Ignaz Beeckes am Kurmainzer Hof vermittelte Erich Staab (Erlangen) mit seinem Beitrag „Gehört / Geschrieben / Gelesen: Musikalisches Leben am Kurfürstenhof Erthals in den Briefen Ignaz Beeckes“. In den untersuchten Briefen, die Beecke vor allem in den frühen 1780er Jahren – zu einem großen Teil an Kraft Ernst Fürst zu Oettingen-Wallerstein – versandte, konnten zahlreiche kritische Bemerkungen zu herausragenden Gästen, die musikalisch in Mainz und Aschaffenburg hervortraten – darunter beispielsweise Ludwig Fischer oder Luísa Todi –, ausfindig gemacht werden. Daneben zeigte Staab auch Äußerungen Beeckes, die seine hohen Ansprüche gegenüber dem Hoforchester und sein Verhältnis zu anderen am Hof tätigen Personen erkennen lassen.

Der Beitrag „Ein Fundus bislang unbekannter Archivalien zur kurfürstlich-mainzischen Hofmusik unter Kurfürst Karl Joseph von Erthal“ von Franz Stephan Pelgen (Mainz) wurde von vielen – gerade mit Blick auf ein bisher unbekanntes Schriftstück Wolfgang Amadeus Mozarts – wohl mit besonderer Spannung verfolgt. Pelgen präsentierte mit den Handakten der Mainzer Hofmusikintendanten Philipp Karl Reichsgraf von Ingelheim und Franz Ludwig Graf von Hatzfeld unter dem Titel „Die kurfürstlich-mainzische Hofmusik“ eine bislang gänzlich unbekannte Überlieferung im Staatsarchiv Breslau, worunter zahlreiche Dokumente – zum Beispiel Gutachten, Korrespondenzen, Gesuche, Rechnungen und Listen – gerade für zukünftige personenbezogene Forschungen gewinnbringende Erkenntnisse versprechen dürften.

Die Frage, ob und auf welche Weise Schilderungen in fiktionalen Texten Hinweise auf die historische Wirklichkeit geben können, erörterte Peter Niedermüller (Mainz) mit seinem Beitrag „Ist ein Roman eine musikhistorische Quelle? Überlegungen am Beispiel von Hildegard von Hohenthal“. Der dreibändige Musikroman (1795) des bei Erthal angestellten Wilhelm Heinse wurde punktuell auf mögliche Bezüge zur Realität untersucht. Niedermüller diskutierte Gemeinsamkeiten zwischen der Romanfigur Hildegard und den Sängerinnen Nancy Storace und Hortensia von Hatzfeld, solche zwischen der im Roman beschriebenen fiktiven Oper Achille in Sciro und dem gleichnamigen Libretto Pietro Metastasios sowie schließlich im Roman geschilderte ästhetische Urteile bezüglich der Qualität von Kastratenstimmen.

Mit Austin Glatthorns (Durham) Beitrag „Eine verwaiste Residenz: Musiktheater in Mainz während der französischen Besatzungszeit 1792/93“ wurden die tiefgreifenden Konsequenzen aufgezeigt, die ein plötzlicher Austausch des Regimes auf das Musikleben einer Stadt nach sich ziehen kann: Glatthorn beschrieb, wie das 1788 unter Erthal gegründete, zunächst überaus produktive und angesehene Nationaltheater infolge der französischen Besatzung und des damit verbundenen Weggangs Erthals 1792 geschlossen werden musste, weshalb sich ein großer Teil der dort angestellten Mitglieder dazu gezwungen sah, Mainz zu verlassen. Es wurde ersichtlich, inwiefern dieser Personalschwund im städtischen Musikleben auch nach der Rückkehr des Kurfürsten noch deutlich spürbar gewesen ist.

Dass das erste Mainzer Diözesangesangbuch, 1787 herausgegeben von Ernst Xaver Turin, auch in Zusammenhang mit Erthals Reformbemühungen gesetzt werden kann, zeigte Lara Fischer (Mainz) mit dem Beitrag „Proteste, Possen, Propaganda – Der Mainzer Gesangbuchstreit um 1787“. Sie führte aus, dass die Übernahme deutscher Lieder in diesem Gesangbuch, die den lateinischen Choralgesang im katholischen Gottesdienst ersetzen sollten und sich dem Vorwurf eines (freilich nur in wenigen Einzelfällen nachweisbaren) protestantischen Ursprungs ausgesetzt sahen, von einigen Katholiken als „Zwangsreformation“ empfunden wurde, was noch im selben Jahr zu einem Aufstand führte. Fischer illustrierte an einigen Auszügen aus den prägnanten, zum Teil in Mundart abgefassten Dialogen über das Mainzer Gesangbuch, wie die skeptischen Kommentare der Gesangbuchgegner – wohl nicht ohne erzieherische Absichten – karikierend dargestellt wurden.

Ausgehend von der Beobachtung, dass im Mainzer Musikverlag Bernhard Schotts in den Jahrzehnten um 1800 fast keine geistliche Musik gedruckt wurde, verfolgte Axel Beer (Mainz) mit seinem Beitrag „Geistliche Musik um 1800 – rhapsodische Bemerkungen über Intention, Rezeption und Distribution“ die Frage, welchen Stellenwert geistliches Musiziergut zu dieser Zeit auf dem Markt einnahm. Anhand des geringen Erfolgs einiger von verschiedenen Leipziger Musikverlagen probeweise herausgegebenen Ausgaben geistlicher Musik wurde deutlich, dass die Nachfrage wohl in vielen Fällen die Herstellungskosten nicht decken konnte. Allerdings zeigte Beer am Beispiel des Augsburger Musikverlegers Johann Jakob Lotter, dass sich im Falle eines fest umrissenen Kundenkreises – hier vorwiegend aus Laien ländlicher süddeutscher Regionen bestehend – auch geistliche Musik als Bestandteil des Verlagsrepertoires etablieren konnte.

Mit dem Beitrag „Schöne Stimmen im Mainz der Erthal-Zeit: Luísa Todi, Francesco Ceccarelli und Hortensia von Hatzfeld“ porträtierte Karl Böhmer (Mainz) drei unterschiedliche Sängertypen, die zur Regierungszeit Erthals in Mainz tätig waren: die Sopranistin Luísa Todi, welche als international gefeierte prima donna um 1790 auch in Mainz auftrat; den Soprankastraten Francesco Ceccarelli, welcher zu seiner Zeit als festangestellter Mainzer Hofsänger (1788–1797) noch eine zweite Opernkarriere als primo uomo in Italien einschlug; und schließlich Hortensia von Hatzfeld, welche dagegen als nobile dilettante wahrscheinlich auch in Mainzer Akademien einige Arien präsentierte. Daneben gab Böhmer auch einen Einblick in das jeweilige Arienrepertoire, das in Zukunft noch weiter rekonstruiert werden soll.

In welcher Form beliebte Opernmelodien in Mainz auch abseits der Opernbühne erklingen konnten, zeigte Ursula Kramer (Mainz) mit dem Beitrag „Oper to go. Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal und die Harmoniemusik zu Mozarts Don Giovanni des Mainzer Hofmusikers Franz Heinrich Ehrenfried“. Als Beispiel für eine Reduktion großbesetzter Werke für kleine Instrumentalensembles, die an Fürstenhöfen ein großes Orchester ersetzend auftraten, stellte Kramer die Harmoniemusik zu Mozarts Don Giovanni des am Hof tätigen Franz Heinrich Ehrenfried vor. Sie erläuterte dabei die satztechnischen Probleme, die bei einer solchen Übertragung gelöst werden mussten, und zeigte, dass Ehrenfrieds Arrangement im Gegensatz zu einigen anderen Bearbeitungen neben den beliebtesten Nummern beispielsweise auch Teile beider Finali mit einbezog. Zudem ist die Nähe zur Don Juan-Produktion des Mainzer Nationaltheaters, der deutschsprachigen Erstaufführung, klar ersichtlich. Verdeutlicht wurden die Ausführungen durch praktische Klangbeispiele.

In dem von Axel Beer moderierten Kammerkonzert, das im Anschluss an die Tagung stattfand, wurden sowohl die zuvor besprochene Don Giovanni-Harmoniemusik Ehrenfrieds als auch Vincenzo Righinis Serenade in Es-Dur von einem Ensemble aus zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Hörnern, zwei Fagotten und Kontrabass präsentiert. Es bildete die Abrundung eines erkenntnisreichen Tages, dessen Ergebnisse zeitnah innerhalb der Beiträge zur mittelrheinischen Musikgeschichte veröffentlicht werden sollen.