„Was ist Musikphilosophie?“

Leipzig, 23.-24.11.2019

Von Kira Henkel, Gießen – 03.07.2020 | „Braucht die Musikphilosophie die Musikwissenschaft? Und: Braucht die Musikwissenschaft die Musikphilosophie?“ Mit diesen Fragestellungen eröffnete Wolfgang Fuhrmann in seinem Beitrag das musikphilosophische Symposium an der Hochschule für Musik und Theater (HMT) Leipzig. Gleich zu Beginn stellte er damit grundlegende interdisziplinäre Diskussionspunkte heraus, unter welchen die Tagung im Vorfeld angekündigt worden war: „Was ist Musikphilosophie?“, kann sie sich als eine eigenständige Disziplin definieren lassen – falls ja, wie positioniert sie sich gegenüber anderen Fachbereichen und nach welchen Paradigmen lässt sie sich denken und fassbar machen? Die Veranstalter dieser Tagung, Fuhrmann (Universität Leipzig) und Claus-Steffen Mahnkopf (HMT Leipzig), hatten im Interesse eines Dialogs über das Grundsätzliche der Musikphilosophie Redner*innen vornehmlich aus den Bereichen der Musikwissenschaft und Philosophie eingeladen. Es ergab sich daraus ein Programm, das sich nicht allein durch sein breites Themenspektrum und eine Vielfalt verschiedenster Ansätze und Sichtweisen auszeichnete, sondern auch aufgrund seiner interdisziplinären Konzeption, welche eine lebendige Reflexions- und Diskussionskultur in diesen beiden Tagen anregte.

An Fuhrmanns bereits erwähnten Eröffnungsvortrag über das grundlegende Verhältnis von Musikwissenschaft und Musikphilosophie schloss sich der Beitrag von Katrin Eggers (Hannover) an, der sich der Frage „Was ist Musikphilosophie“ über das Verhältnis von Bildphilosophie und Musiktheorie näherte. Mit der Vorstellung einiger aktueller Theorien diskutierte sie unter anderem die These, inwieweit modellhafte Bilddarstellungen für die Demonstration musiktheoretischer Sachverhalte fruchtbar sein können und mit welchen Implikationen und Auswirkungen solche Anordnungsmodelle einhergehen.

In dem darauffolgenden Vortrag dachte Matthias Vogel (Gießen) über das Wesen des Musikverstehens nach. Ausgehend von dem Konzept des Nachvollzugs, welches für Vogel, wie bereits in einer Vielzahl seiner musikphilosophischen Arbeiten erörtert, in enger und notwendiger Verschränkung mit dem musikalischen Verstehen liegt, argumentierte der Philosoph, dass der „Sinn […] nicht einfach gegeben“ sei, sondern vielmehr in den „Akten des Nachvollzugs“ begründet liege. An seine abschließende These: „Musikphilosophie ist der Versuch, mit philosophischen Mitteln über diejenigen Praktiken nachzudenken, in denen Klangfigurationen die Funktion haben, so verstanden zu werden, dass Rezipienten ihren Sinn erfahrend erfassen“ schloss sich ganz im Sinne der Veranstalter eine rege gemeinsame Reflexion über das zuvor Erörterte an.

Auch Thomas Dworschak (Leipzig) näherte sich in seinem Vortrag „Der Sinn der Musik (und der Sinn des Verhaltens) als Kulturphänomen“ von philosophischer Seite dem Verstehen von Musik, indem er unter Rückgriff auf Adorno, Plessner und Wellmer verschiedene Dimensionen musikalischen Sinns zu differenzieren versuchte.

„Nach der Musik: Für eine anti-essentialistische Philosophie der Musik“ lautete der Titel von Christian Grünys (Witten) inspirierendem Vortrag. Grüny erkundete das „Nach der Musik“ und zeigte damit einhergehend verschiedene Möglichkeiten einer Erweiterung und Transformation des Musikbegriffs auf. Die Musikphilosophie, so Grüny, sei immer auch mit der Arbeit am Musikbegriff verbunden und müsse, da die Wissenschaft nun „nach einer Situation, die von einem starken Musikbegriff beschrieben ist“, stehe, kritisch hinterfragt werden. Auf Christian Grünys Plädoyer für eine gewisse Skepsis gegenüber dem Begriff „Musik“ folgten Jürgen Stolzenbergs (Halle) Überlegungen zum musikalischen Subjekt, in expliziter Abgrenzung zur (in deutschsprachigen Debatten bisher nur wenig rezipierten) „Persona“-Theorie.

Über die Begriffe der Subjektivität und Normativität aus musikhistorischer und musikphilosophischer Perspektive sprach Tobias Janz (Bonn). Janz konzipierte in diesem Zusammenhang die Musikphilosophie eher als Hilfsdisziplin denn als eigenständig agierendes Fach. Viel Diskussionspotential boten der sich anschließende Vortrag von Gunnar Hindrichs (Basel) und seine Überlegungen zu einer Musikphilosophie, die auf ästhetischer Vernunft gründet. Anknüpfend an Matthias Vogels Ausführungen zum Wesen des Nachvollzugs plädierte Hindrichs im Ausgang von einer genaueren Bestimmung der Begriffe des Hörens und des Klangs für eine Musikphilosophie, die sowohl Vollzug als auch Geltung der Musik reflektieren müsse.

Abweichend von seinem ursprünglich gesetzten Schwerpunkt sprach Claus-Steffen Mahnkopf (Leipzig) nicht über das Verhältnis von Musikphilosophie und musikalischer Produktion, sondern reflektierte über die bereits vielfach behandelte Frage nach der Sprachähnlichkeit von Musik. Während Christoph Türcke (Leipzig) in seinem Vortrag über Musik als eine besondere Form der Erschütterungskultur referierte, sprach Gabriele Geml (Wien) unter Bezugnahme auf bereits vorhandene Theorien von Rousseau, Nietzsche und Adorno über das Verhältnis von Musikphilosophie und Sprachästhetik.

Nikolaus Urbanek (Wien) fragte in seinem anregenden Beitrag mit dem Titel „Lust / Erfahrung / Praxis. Herausforderungen zeitgemäßer Musikphilosophie“ nach der Beschaffenheit des Musikphilosophischen und sprach sich dafür aus, das musikphilosophische Denken an und mit der Musik zu entwickeln, um der Gefahr einer „Bindestrich-Philosophie“ zu entgehen. Die Musikphilosophie müsse sich zudem, so Urbanek weiter, korrespondierend zu aktueller soziologischer Forschung bewegen, um Begründungen finden zu können, weshalb Musik für den Menschen einen derart großen Stellenwert einnehme.

Richard Klein (Freiburg) stellte in seinem Vortrag wichtige Betrachtungsweisen zu Adornos Materialbegriff heraus und diskutierte in diesem Zusammenhang auf der Grundlage historischer Fakten mögliche Problemstellungen der Interpretation. Cosima Linke (Saarbrücken) schloss sich als vorletzte Rednerin der Tagung mit einer Reflexion über das Verhältnis von Musikphilosophie und musikalischer Analyse an, bevor nochmals Wolfgang Fuhrmann das Wort ergriff, um den Beitrag des leider abwesenden Daniel Martin Feige (Stuttgart) mit dem Titel: „Das besondere Denken – das Besondere denken. Musikästhetik als Herausforderung für Musikwissenschaft und Philosophie“ zu verlesen. Der Vortrag des ebenfalls abwesenden Ferdinand Zehentreiter (Frankfurt) wurde zugunsten einer erweiterten Abschlussdiskussion ausgelassen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das projekthafte Moment, welches der Musikphilosophie anzuhaften scheint, auch die Vorträge dieses Leipziger Symposiums kennzeichnete. Auch wenn der Diskurs über die Theorienbildungen in diesen zwei Tagen nicht zuletzt aufgrund des Mangels an konkreten Bezügen zur erklingenden Musik nicht hinauszukommen schien, bot die Diversität der Ansätze und Fragestellungen doch einen vielversprechenden Einstieg in eine aktualisierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den musikphilosophischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die überraschend hohe Zahl auch jüngerer Tagungsbesucher*innen zeigte die gegenwärtig hohe Nachfrage nach der deutschsprachigen Debatte um die Musikphilosophie von heute, sodass eine zunehmende universitäre Auseinandersetzung in der Lehre sowie eine verstärkte Einbindung von Nachwuchsforscher*innen auf diesem Gebiet durchaus erstreben- und wünschenswert ist.

Bei Interesse an künftigen Angeboten zum Informationsaustausch (Tagungen, Publikationen etc.) lohnt es sich, die auf dem Symposium ins Leben gerufene Mailingliste zu abonnieren. Hierzu wenden Sie sich bitte an Prof. Wolfgang Fuhrmann (fuhrmannwolfgang(at)gmail(dot)com).