Beethoven-Geflechte. Networks and Cultures of Memory

Wien, 19.-22.05.2020

Von Raphaela Beroun, Wien – 02.03.2021 | Das Symposium zum Beethoven-Jahr 2020 fand, wie alle Veranstaltungen in der Zeit der Covid-19-Pandemie, unter besonderen Umständen statt. Die Organisatorinnen Birgit Lodes (Universität Wien) und Melanie Unseld (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien – mdw) stellten sich in Verbindung mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften der Herausforderung, die bereits vorbereitete Tagung auf eine virtuelle Plattform zu verlegen. Dies brachte nicht nur einen neuen Rahmen und eine Umstrukturierung des ursprünglich geplanten Ablaufs mit sich, sondern auch unterschiedliche Diskussionsformate, um dennoch in wissenschaftlichen Austausch treten zu können – von internen Textdiskussionen bis zu verschiedenen Videoformaten und Live-Diskussionen mit Chats.

Dass gerade Gedenkjahre häufig Narrative verfestigen, war für die Veranstalterinnen der Ansporn, diese aufzubrechen und neue Fragen zu stellen. Es gelte, einen Blick auf die sich stetig verändernde Erinnerungskultur rund um den Komponisten zu werfen. Zu den Aufgaben gehöre ferner, so Lodes, Beethoven im gesellschaftlichen Kontext seiner Wiener Zeit mit Hilfe einer die Stände übergreifenden und sie reflektierenden Perspektive zu betrachten. Die Wortneuschöpfung „Beethoven-Geflechte“ diene dazu, die Schablone von Text und Kontext aufzubrechen: Die Strukturen eines Geflechts seien nicht gänzlich durchschaubar; Mikroblicke, aber auch die Totale seien notwendig, um den Charakter eines solchen zu beschreiben. Dabei verwies Unseld auf die diversen Phänomene, wie Personen, (soziale) Räume, Musik und Medien der Erinnerungskultur, die in enger Beziehung zueinander stünden. Einer dieser sozialen Räume, in dem Beziehungspunkte besonders evident sind, ist der musikalische Salon, der im Laufe der Tagung noch öfters thematisiert wurde.

Das erste Panel „Gesellschaft im Blick: Politik und soziale Relationen der Beethoven-Zeit“ wurde mit dem Vortrag „Beethoven Beyond the Prisonhouse of Nations: Music, Feeling, and Social Relations, without Nationalism“ von Nicholas Mathew (University of California, Berkeley) eröffnet. Mathew problematisierte den Begriff des „Nationalen“, in dessen Kontext diverse Werke Beethovens nur allzu gerne gerückt werden. Stattdessen ging Mathew den Stärken und Schwächen der Netzwerkanalyse nach, die den Blickwinkel großflächig erweitern und neue Möglichkeiten und Ansätze liefern könne.

David Wyn Jones (Cardiff University) stellte in seinem Textbeitrag ebenfalls die Netzwerkanalyse in den Vordergrund. Er widmete sich den Unterstützern und Förderern Beethovens in der post-napoleonischen Zeit und hob deren breite gesellschaftliche Aufstellung und Verknüpfung hervor. Sowohl die Rolle und kulturelle Einflussnahme des Wiener Adels als auch das Wechselspiel zwischen Aristokratie und Bürgertum im Musikleben Wiens wurde mehrmals herausgestellt und differenziert. Constanze Köhn (mdw) veranschaulichte den Umbruch in der Organisationsstruktur von Oratorien in Beethovens Wien. Dabei beleuchtete sie die Träger und Aufführungsorte des Oratoriums um 1800 und stellte hier die Frage nach der Motivation des Adels und seinem Rückzug nach 1801. Auch in den Beiträgen von Gundela Bobeth (Berlin) und Julia Ronge (Beethoven-Haus Bonn) wurden spezifische Aspekte der Wiener Adels- und Musikkultur thematisiert. Bobeth unterstrich die enorme Bandbreite des Wiener Liedschaffens der Zeit, das nach einer kulturgeschichtlichen Neupositionierung und einer deutlich breiteren Repertoireanalyse verlange.

Ronges Beitrag problematisierte die Sicht der Beziehung zwischen Beethoven und Karl Fürst von Lichnowsky als freundschaftlich im modernen Sinn und verwies auf einige Indizien, die den Komponisten eher als einen Angestellten bzw. „eine Art Hofkünstler“ Lichnowskys erscheinen lassen. Diese Argumentation unterstützte auch Martin Eybl (mdw), der den geschichtlich ambivalenten Begriff „Freund“ aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtete und zur Diskussion stellte. Dass eine genauere Untersuchung der Verhältnisse von Adel und Bürgertum und die an die jeweiligen Stände gerichteten Erwartungshaltungen durchaus lohnt, konnte auch Abigail Fine zeigen. Sie rückte Beethoven als „Sonderling“ in den Fokus und thematisierte damit die unterschiedlichen sozialen Kategorien, Erwartungshaltungen, Ideale und Verhaltensweisen der diversen gesellschaftlichen Schichten.

Beethovens Verbindungen zum Adel fanden ebenso bei Martin Scheutz (Universität Wien) Beachtung, der die Wiener Aristokratie aus der Sicht eines Historikers beleuchtete und deren soziale Inhomogenität unterstrich. Dabei thematisierte er auch die von den Wienern häufig aufgesuchten Kurorte, die er als „Laboratorien der Gesellschaft“ und „niederschwellige Orte der überständlichen Soziabilität“ bezeichnete.

Die Bedeutung und enge Verflechtung von Musik und (sozialen) Räumen spielte ebenfalls in dem Vortrag von Erica Buurman (San José University) eine bedeutende Rolle. Buurman betrachtete mit Blick auf das Menuett und die Polonaise deren soziale Konnotation und Assoziation mit den Räumlichkeiten, in denen diese getanzt wurden sowie deren sich wandelnde Rezeption um 1800.

Die Erinnerungskultur um Beethoven wurde in der Sektion „Erinnern, Aneignen, Weitererzählen… Zeitläufe der Memoria“ vielfältig behandelt. Julia Ackermann (mdw) griff mit ihrer Untersuchung des festgefahrenen Narrativs vom „Scheitern“ des Fidelio in den Berichten der Zeitgenossen erneut den Netzwerkgedanken und die räumliche Komponente auf. Die mindestens genauso festgefahrene und zur Marginalisierung neigende Sichtweise, die im Hinblick auf Beethovens Bonner Jahre im 19. Jahrhundert eingenommen wurde, betrachtete John Wilson (ÖAW) kritisch und widmete sich der Dekonstruktion einiger Mythen, die den Blick auf Beethovens Bonner Zeit teilweise bis heute begleiten.

Der nicht zu unterschätzende Aspekt des Lenkens von Erinnerungen fand bei Henrike Rost (Berlin) Beachtung, deren Schwerpunkte unter anderem in der Stammbuchforschung liegen. Sie ging auf die zeitgenössische Stammbuchpraxis ein und kam dabei auch auf Beethovens eigene Beiträge in Stammbüchern zu sprechen.

Einen weiteren Einblick in die Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts gab Thomas Seedorf (Hochschule für Musik in Karlsruhe). Auch wenn Beethoven und der Prinz Louis Ferdinand von Preußen einander nur zweimal begegneten, so ist deren erinnerungskulturelle Verflechtung im Modus des Heroischen wesentlich dichter als man vermuten würde. Sie reicht weit bis in das 19. Jahrhundert hinein, was Seedorf anhand von Werken Carl Maria von Webers und Franz Liszts veranschaulichte.  Der Historikerin Karen Hagemann (University of North Carolina at Chapel Hill) gelang es, in ihrem erinnerungsgeschichtlichen Beitrag über die Literaturproduktion und den Salon Caroline Pichlers einen breiten Einblick in Krieg, Politik, Kultur und Erinnerung an diese Zeit zu geben. Hagemann verwies nicht nur auf die Vielschichtigkeit der politischen Zensur, sondern griff auch Nicholas Mathews Problematisierung des „Nationalen“ und die damit einhergehenden Konnotationen auf.

Einen eigenen inhaltlichen Schwerpunkt der Tagung innerhalb des Panels zur Erinnerungskultur bildete ein vergleichender Einblick in die großen Beethoven-Gedenkjahre von 1870 bis 1970. Während sich der Vortrag von Barbara Boisits (ÖAW) mit den Inszenierungen diverser Beethoven-Feiern im Jahr 1870 auseinandersetzte, welche bereits zu diesem Zeitpunkt unter deutschnationalen Vorzeichen standen, griffen Glenn Stanley (Barenboim-Said Akademie Berlin) und Annegret Fauser (University of Chapel Hill) die politisch breitgefächerte Rezeption Ludwig van Beethovens im Jahr 1927 in Deutschland und in Wien auf. Beide hoben die politische Instrumentalisierung des Komponisten und seine Symbolhaftigkeit hervor. Der Vortrag von Hans-Joachim Hinrichsen (Universität Zürich) erweiterte die Rezeptionsperspektive auf den Umgang mit Beethoven-Bildern im Umkreis der Jubiläumsfeiern des Jahres 1970 im deutschsprachigen Raum.

Vor der Abschlussdiskussion zu „Beethoven im Salon? Geflechte, Gespräche und die schwierigen Fragen einer ephemeren Praxis“ erläuterte Birgit Lodes (Universität Wien) anhand einiger musikalischer Geschenke Beethovens an Frauen den kommunikativen Diskurszusammenhang, in dem diese Kompositionen zu sehen sind sowie die zentrale Rolle der Frau als kommunikativem Gegenüber. Die Abschlussdiskussion ging noch einmal zu einem konkreten Raum zurück, der vielfach im Zentrum der Beobachtungen der Wiener Adels- und Musikkultur stand – der Salon. Wie stellt man sich Beethoven im Salon vor? Widersprechen diese Vorstellungen nicht dem gängigen Narrativ des vereinsamten Genies? Welche Salons in Wien frequentierte Beethoven und welche Musik spielte hier welche Rolle? Mit Hans-Joachim Hinrichsen und Melanie Unseld diskutierten Gundela Bobeth, Karen Hagemann, Martin Eybl und weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung – mündlich und im Chat, ganz so, wie es die digitale Tagung ermöglichte.