Narrating Musicology. Fachgeschichte(n) der Musikwissenschaft

Bern, 05.-08.09.2021

Von Sebastian Bolz, München – 27.09.2021 | Allen Teilnehmer:innen war die Freude darüber anzumerken, dass nach 18 Monaten pandemisch bedingter Ausfälle, Verschiebungen und Online-Tagungen wieder eine Konferenz in Präsenz stattfinden konnte – durch die Einhaltung der 3G-Regeln sowie einer konsequenten Maskenpflicht. Die Organisator:innen von Narrating Musicology hatten die erzwungene Verschiebung der ursprünglich für Oktober 2020 angesetzten Tagung um ein Jahr für einen zweiten Call for Papers genutzt. Entsprechend breit, vielfältig und aktuell fiel das Programm aus: In bis zu drei Parallelsektionen spannten 47 Einzelbeiträge, zum Teil als freie Beiträge, zum Teil in thematisch enger geführten Panels ein Panorama zum Stand des Nachdenkens über die Musikwissenschaft und ihre Teilbereiche. So fragten Panels etwa nach den Möglichkeiten und Aufgaben einer von »post-truth«-Tendenzen angefochtenen (Musik‑)Wissenschaft oder nach den Eigenlogiken bestimmter »literarischer Genres« des wissenschaftlichen Schrifttums.

Immer wieder auftauchende Beobachtungen und Debatten betrafen einerseits traditionelle Erzählungen der akademischen Musikwissenschaft, vor allem aber Forderungen an eine Musikwissenschaft der Zukunft. Zu ihnen zählten die Auseinandersetzung mit jenen Narrativen der Musik- wie der Fachgeschichte, die ›koloniale‹ Denkstrukturen aufweisen (wie etwa Anja Brunner und Lena van der Hoven argumentierten), aber ebenso traditionelle Narrative und deren Beschränktheit, etwa in der ungebrochenen (und diskursbegrenzenden) Wirkmächtigkeit einer Aufteilung des Fachs in Subdisziplinen (wie Marcello Sorce Keller ausführte), und nicht zuletzt die auch für aktuelle musikwissenschaftliche Texte paradigmatische Funktion solcher Narrative, die zunächst performativ wiederholt und dann abgelehnt würden (wie Anna Magdalena Bredenbach zeigte). Immer wieder geriet dabei auch die Begrenztheit forschungsleitender Begriffe (etwa das ›Lied‹ im Beitrag von Meredith Nicoll oder die ›Oper‹ bei Lena van der Hoven) in den Blick. So kehrten die Diskussionen zu einem Grundproblem der Musikhistoriographie zurück, das durch die Auseinandersetzung mit deren Narrativität an Schärfe gewonnen hat: Ob die Analyse solcher Erzählungen zu ihrer Aufhebung oder vielmehr zur auf expliziten Entscheidungen basierenden Erweiterung und Neuformulierung (wie etwa Britta Sweers vorschlug) führen kann und soll, bleibt weiter zu diskutieren.

Drei Keynotes regten zur Diskussion über konkrete Beispiele musikhistoriographischer Narrative, aber auch grundlegender Tendenzen an und spiegelten so die Gesamtstruktur der Tagung. (Die Keynote von Patricia Opondo musste aus gesundheitlichen Gründen entfallen.) Den Auftakt bildete Anselm Gerhard, dessen Band Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin? als eine der maßgeblichen Anregungen der musikwissenschaftlichen Fachgeschichtsforschung gelten darf – das 25jährige Publikationsjubiläum hatte der Tagung auch den Anlass gegeben. In seiner Keynote warf Gerhard einen kritischen, bisweilen durchaus irritierenden Blick auf aktuelle Tendenzen des Fachs. Er exemplifizierte so die Herausforderungen, denen sich Musikwissenschaftler:innen in einer Welt ausgesetzt sehen, die durch die Pluralisierung von Forschungsgegenständen, Methoden und wissenschaftspolitischen Strukturen an sichtbarer Komplexität gewinnt. Simon McKerrell nutzte seine Keynote für einen kommentierenden Überblick über sozialwissenschaftliche Ansätze der Musikwissenschaft und einen daran anknüpfenden Appell »towards a more musical musicology«, der auf die Diversifikation aller Teilbereiche der Musikwissenschaft und ihrer Gegenstände reagiert. Im Hören und Machen von Musik, die ohnehin nicht auf eine »single music« verengt werden könne, agierten, so McKerrells Grundannahme, musikalische Genres als soziale Distinktionskategorien. Dabei herrschten stets individualisierte Zugänge innerhalb dieser Kategorien vor: »your music is not my music«. Mit dieser Komplexität des Feldes halte, so seine Diagnose, die Wissenschaft nicht Schritt– bisweilen auch, weil genuin konservative Stimmen in der Diskussion fehlten. Kontrovers wurde McKerrells Beobachtung aufgenommen, dass eine musikspezifische Form der »Kontaktthese«, nach der das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Milieus das gegenseitige Verständnis und eine Annäherung befördere, empirisch nicht gestützt sei. Ins Aufgabenheft schrieb er der Wissenschaft deshalb nicht nur eine verstärkte (auch teilnehmende) Auseinandersetzung mit der konkreten Ausübung von Musik, sondern auch die Linderung sozialer Spaltungen. Er plädierte für eine stärker auf die Praxis ausgerichtete »musicology of skills and not of knowledge«. David Irving nahm seinen Ausgang bei musikwissenschaftlichen Fortschrittserzählungen, die er am Beispiel der Historischen Aufführungspraxis problematisierte. Den Fokus legte er dabei auf spezifisch progressive Phänomene – etwa im Sinne von Inklusivität und Interkulturalität – innerhalb dieses Feldes, die im Konflikt mit den dezidierten Rückwendungstendenzen einiger seiner Vertreter:innen ständen. An mehreren Beispielen konnte Irving die Pluralität deutlich machen, die gerade auf diesem – spätestens seit den 70er Jahren durchaus ideologisierten – Feld in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschte. Die Kontakte des Musikers und insbesondere für seine Tasteninstrumente bekannten Instrumentenbauers Arnold Dolmetsch zu einflussreichen Interpreten indischer und sri-lankischer Musik und des Sängers Bayard Rustin, der cembalobegleitet gleichermaßen «Elizabethan Songs and Negro Spirituals« (so der Name eines seiner Alben) sang, seien »meaningful intercultural engagements«. So forderte Irving dezidiert eine Neuformulierung traditioneller Narrative, die Historische Aufführungspraxis lediglich als eine voranschreitende Suche nach Authentizität beschreiben.

In der Vielfalt der Themen wurde vor allem eine Chance für die Musikwissenschaft deutlich: Die in den Diskussionen auszumachenden Berührpunkte zwischen ihren unterschiedlichen Bereichen ließen stets den Eindruck zurück, dass der oft beklagten »Sprachlosigkeit« zwischen den Teildisziplinen mit Veranstaltungen wie dieser durchaus beizukommen ist – und dass gerade die Reflexion fachlicher Strukturen sowie von Denkfiguren und ihrer Geschichte einen Bereich bildet, in dem sich Musikwissenschaftler:innen mit unterschiedlichsten Erkenntnisinteressen produktiv begegnen können. Unter dem Dach der Fachgeschichte – oder allgemeiner der Wissenschaftsforschung – treffen sich aktuell Analysen historischer Texte mit Überlegungen zum aktuellen Stand des Fachs und Beobachtungen zu allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Tendenzen. Damit wird die Fachgeschichte selbst nicht nur zu Meta-Disziplin, sondern sie stellt ein Forum dar, um sich über die Meta-Erzählung der Musikwissenschaft zu verständigen.

Nicht zuletzt, weil immer wieder Fragen nach der öffentlichen Reichweite der Musikwissenschaft und nach ihrem Verhältnis zur Musikpraxis (etwa von Rim Jasmin Irscheid und Moritz Kelber) diskutiert wurden, stellten zwei denkbar unterschiedliche Konzerte eine gelungene Ergänzung des Programms dar. Die Bandformation SEBASS und das Streichquartett Nerida spiegelten treffend eine zentrales Anliegen der Tagung: Dass die Breite musikalischer Praktiken und Genres Musikwissenschaftler:innen zusammenführen und höchst fruchtbar unterschiedliche Perspektiven, subdisziplinäre Interessen und musikalische Sozialisationen aufeinandertreffen lassen möge.

Dem Organisationsteam um die vier Assistent:innen des musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Bern (Lea Hagmann, Moritz Kelber, Vincenzina Ottomano, Sascha Wegner) – und nicht zuletzt der vorzüglichen technischen Ausstattung ihrer Hochschule – war es zu verdanken, dass auch diejenigen, die nicht vor Ort teilnehmen konnten, auf ihre Kosten kamen: Beeindruckend selbstverständlich ermöglichte eine konsequent hybride Ausrichtung das Verfolgen der Vorträge und die aktive Teilhabe an den lebhaften Diskussionen. Auch in dieser Hinsicht macht die Berner Tagung Mut, dass unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts und trotz aller Risikofaktoren, zu denen auch die oft wenig pragmatischen Konferenzreisen zählen, wissenschaftliche Veranstaltungen zunehmend Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Bereichen der Disziplin, aber auch der Welt zusammenführen können.