Tonsysteme und Stimmungen

Basel, 01.-03.10.2021

Von Patrick Becker-Naydenov, Leipzig – 04.09.2022 | Knapp 100 Vortragende kamen beim 21. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie auf dem Campus der Hochschule für Musik und Musik-Akademie Basel zusammen, um in den verschiedensten Konferenz- und Konzertformaten das Thema „Tonsysteme und Stimmungen“ zu erörtern. Die Kooperation der Institute für Jazz und Klassik mit der Schola Cantorum Basiliensis schlug sich insofern im Programm der Tagung nieder, als neben den offensichtlichen Schwerpunkten der Alten, der klassischen und der Neuen Musik sowie dem Jazz auch musikpädagogische Beiträge zur Sprache kamen. Neben Alexander Rehding waren mit Catherine Lamb eine Komponistin und mit Michalis Cholevas ein Spezialist für die Musik des Nahen und Mittleren Ostens als Keynote-Vortragende eingeladen, wobei sogenannte „Experimental-Ateliers“ und verschiedene seltene Instrumente wie die Rekonstruktion von Nicola Vincentinos 36-stufiger Arciorgano durch Bernhard Fleig und das Basler Studio 31 nicht-normative Tonsysteme auch klanglich erfahrbar machten.

Neben den zahlreichen Konzerten, Keynotes und praxisorientierten Veranstaltungen gliederte sich der Kongress in eine freie und fünf inhaltlich gebundene Sektionen. Thematisch bewusst nicht allzu deutlich umrissen, sollten mit „Systematisieren“, „Lehren“, „Aufführen“, „Wahrnehmen“ und „Veranschaulichen“ Tonsysteme und Stimmungen aus der Abstraktion musiktheoretischer Konzepte herausgeholt und für die Teilnehmenden erfahrbar gemacht werden. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass die Vortragenden selbst ausdrücklich dazu ermuntert wurden, in ihren Beiträgen Querverbindungen zwischen den Sektionen herzustellen, wodurch spannende Konstellationen entstanden: In einer Buchpräsentation verbanden Laura Krämer und Tanja Spatz von der HMTM Hannover gemeinsam mit Marcus Aydintan von der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Solmisation, Improvisation und Generalbassspiel als historische Lehrmethoden mit heutiger Musiklehrpraxis, und David Erzberger (Freiburg) entwickelte einen klingenden Guidonischen MIDI-Handschuh für Kontrapunktimprovisationen. Zugleich spielten historisch informierte und Musiktheorie historisierende Beiträge eine wichtige Rolle. So setzte sich Roberta Vidic (Hamburg) auf der Grundlage rezenter Debatten im Umfeld der amerikanischen Musikforschung mit Tonalitätsnarrativen auseinander und fasste sie aus der Perspektive kulturellen Gedächtnisses neu. Der Rezeption besonders wichtiger Beiträge zur Musiktheorie in West- und Mitteleuropa widmete sich Michael Pinkas (Wien), der die tschechische Riemann-Rezeption in Otakar Šíns Harmonielehre von 1922 nachzeichnete, während Matthias Giesen (Linz) dem Fortbestand historischer Satzmodelle in Heinrich Schenkers spätem Der freie Satz nachging. Jan-Martin Gebert (Hamburg) bezog sich kritisch auf Sigfrid Karg-Elerts „Harmonologik“, die 1930 ein Projekt der mikroskopischen Untersuchung von Modulationswegen fortsetzte, das schon bei Arthur von Oettingen in den 1860er-Jahren seinen Anfang nahm. Dennoch kamen auch systematisierende Beiträge nicht zu kurz: Nikolay Gradev (Sofia) stellte seine über viele Jahre im Anschluss an Jurij Cholopov entstandene Methode zur Untersuchung symmetrischer Tonleitern vor, während Manuel Durão (Mannheim) zeigte, wie bei der Wahrnehmung von Sprechmelodien in der Musik ein ,Zurechthören‘ stattfindet, das auf psychoakustischen Prinzipien beruht. Nicht wenige Beiträge widmeten sich dem wichtiger gewordenen Feld des globalen Transfers von Musiktheorie in unterschiedlichen Räumen und zu unterschiedlichen Zeiten. Lujia Sun (Hamburg) fragte nach der Relevanz chinesischer Musiktheorie für die Dezentrierung des im Westen institutionalisierten Fachs am Beispiel von Zhu Zaiyu, einem Denker der Ming-Dynastie im 16. Jahrhundert. Die Rezeption arabischer Tonsysteme in den Kompositionen Klaus Hubers und Amr Okbas untersuchten wiederum Petra Györek (Graz), Tonsysteme mithin, deren Grundlage in den ältesten überlebenden Musiktraktaten der frühen islamischen Welt bei Amir Ahmadi (Linz) zur Sprache kommt. Schließlich wurden Transfervorstellungen beim GMTH-Jahreskongress auch dort angesprochen, wo es wie bei Benjamin Lang (Rostock) um den zeitgenössischen schöpferischen Umgang mit außer- und innermusikalischem Fremdmaterial aus Natur und Alltag ging.

Im Vergleich zu vorherigen Veranstaltungen der Gesellschaft für Musiktheorie fällt vor allem die wachsende Bedeutung digitaler Werkzeuge im weitesten Sinne auf. Hans Peter Reutter (Düsseldorf) stellte ein digitales Archiv vor, das im Gehörbildungsunterricht zum Einsatz kommen kann, und Joshua Bredemeier (Hannover, Herford, Düsseldorf) hat mit Musicalize eine Suchmaschine für musikalische Muster entwickelt, die zunächst einmal alle 389 Bach-Choräle enthält. Simon Fuhrmann legte eine statistische Korpusstudie zur Dissonanzbehandlung in Gilles Binchois’ Chansons vor, die etwa im Satzlehre-Unterricht Verwendung finden kann, ähnlich wie Roman Lüttin (Heidelberg) dies für Gioseffo Zarlinos Musici Quinque Vocum Moduli darstellte. Sam Bivens (Cleveland) entwickelte einen Visualierungsansatz für Nicola Vicentinos Umgang mit musikalischen Modi, der sich nach Christian Schlegel (Hannover) auch auf weitere Enharmonik chromatischer Vokalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts übertragen lässt und somit ein Vorläufer zu Jean-Philippe Rameaus Idee eines enharmonischen Klanggeschlechts zu sein scheint, die Aljoscha Ristow besprach (Maastricht/Amsterdam). Darüber hinaus plädierte Krystoffer Dreps (Hannover) für einen medienbasierten Musiktheorieunterricht, während Sven Heinze (Saarbrücken) und Daniel Walden (Oxford) musiktheoretische Sichtbarkeitsparadigmen wie das Tonnetz in die digitale Welt überführten.

Will man gerade die Beiträge zur mikrotonalen Musik, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert kompositorisch manifestierte, auf den Punkt bringen, so konnte diese Tagung durch eine ganze Reihe von Referaten zeigen, dass der Einsatz solcher Mittel häufig mit Diskursen verbunden war, die sich der Frage nach der Verständlichkeit neuer Musik überhaupt widmeten. Wie Christian Groß (Leipzig) zeigte, operieren gerade Vokalkompositionen vom Lied bis hin zum großen Bühnenwerk häufig mit einer semantischen Aufladung mikrotonaler Techniken, die nicht selten den Eindruck erwecken, als wären sie dezidiert entwickelt worden, um die Scheu vor dem Ungewöhnlichen an dieser Musik zu nehmen. Das gilt – wie Tyler Bouque (Huddersfield) in seinem Beitrag an Opern Richard Barretts, Georg Friedrich Haas’ und Manfred Stahnkes gezeigt hat – für Musiktheaterwerke genauso wie für die Popularmusik, die Martin Zamorano (Lübeck) untersuchte, und noch neueste Kompositionen wie die von Markus Roth (Essen) besprochene Vertonung des Barockdichters Quirinus Kuhlmanns in Enno Poppes Chorstück Der Wechsel menschlicher Sachen von 2021. Die Tonsystem-Dramaturgie, die Carl Tertio Druml (Wien) am Beispiel von Haas’ Oper Koma aufzeigte und die ihren Ursprung in Ivan Wyschnegradskys Experimenten zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat, wie Tobias Hauser (Base) anhand von dessen Spätwerk erläuterte, ist mittlerweile für die kompositorische Praxis traditionsbildend geworden.