Musical Topographies of the Mediterranean

Rom, 16.-18.03.2022

Von Nora Eggers und Viola Großbach, Frankfurt am Main – 04.09.2022 | Zu den Zielen der von Thomas Betzwieser (Goethe-Universität Frankfurt), Sabine Ehrmann-Herfort (Deutsches Historisches Institut Rom) und Judith I. Haug (Orient-Institut Istanbul) organisierten internationalen Tagung gehörte es, eine Brücke zwischen Historischer Musikwissenschaft und Musikethnologie zu schlagen, wobei dezidiert für einen kulturwissenschaftlichen Ansatz plädiert wurde. Der geografische Raum des Mittelmeers, zugleich begrenzt und heterogen, bot die Möglichkeit, diverse Phänomene aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven zu betrachten. Die dreitägige Tagung, die am DHI in Rom hätte stattfinden sollen, musste pandemiebedingt in den virtuellen Raum verlegt werden.

Vor dem Hintergrund der fachgeschichtlichen Trennung von historischer und ethnologischer Musikwissenschaft diente das erste Panel der Verständigung über „Methodological Approaches“ und der Auseinandersetzung mit alten und neuen Konzepten. Mit Blick auf den Tagungstitel erinnerte Martin Greve (Istanbul) in seinem einleitenden Vortrag daran, dass die in der Musikgeschichtsschreibung grundlegenden Begriffe wie Topografie bzw. Raum („area“) und Ethnizität angesichts der Globalisierung und postmoderner Theorie unpassend geworden seien. Sie ließen Gemeinsamkeiten der behandelten „Regionen“ außer Acht sowie postkoloniale Machtstrukturen in Kraft und sollten deshalb dekonstruiert werden. Im Anschluss an die Mediterranean Studies der 1990er Jahre könne der Mittelmeerraum nur als eine „imagined cultural area“ verstanden werden, wobei es essenziell sei, die Frage danach zu stellen, wer die Regionen imaginiert und zu welchem Zweck. Als Vision umriss Greve eine Historische Anthropologie, die einen pluralistischen Ansatz verfolgt, materiellen Ungleichheiten Rechnung trägt, Europa „provinzialisiert“ und historische und ethnologische Musikwissenschaft vereint.

Aus einer historischen Perspektive und unter Nietzsches Motto „Il faut méditerraniser la musique“ forderte auch Dinko Fabris (Matera), den Blick zu weiten und Dichotomien wie Ost–West, historisch–anthropologisch oder innen–außen abzubauen. Dabei stelle die Oper – seit eh und je Brückenbauerin – einen geeigneten Gegenstand dar, sofern die Musikwissenschaft der weitgehend unbeachteten, aber reichen Quellen aus den südlichen Bereichen des Mittelmeerraums gewahr werde. Insbesondere die Verbreitung von Melodrammi durch die Republik Venedig, die vielbeachtete Aida-Aufführung in Kairo 1871 und allgemein der Operntransfer in ganz Europa könnten für die Forschung fruchtbar gemacht werden, wie bereits Publikationen von Paolo Petrocelli, Kate van Orden, Franco Sciannameo oder Adam Mestyan demonstriert hätten.

Mit dem Hinweis auf die Komplexität von Identitäten machte Ruth Davis (Cambridge) den Vorschlag, die ‚versteckten‘ Narrative zu erforschen, wie sie auch die jüdische Gemeinschaft und ihre Musik prägten. So beschrieben die Arbeiten des Musikologen Abraham Zvi Idelsohn, der von 1906 bis 1921 Gesänge orientalischer Juden in Jerusalem sammelte und verglich, dass die motivische Struktur – entgegen der europäischen Sichtweise – als semitisch-orientalisch. Dass sich die Beziehung zur arabischen Welt zugleich als zwiespältig darstellt, zeigte Davis anhand des Films A Magical Substance Flows Into Me (2016), in welchem die palästinensische Künstlerin Jumana Manna Juden in Palästina nach ihren (teils verdrängten) Wurzeln in der arabischen bzw. berberischen Kultur befragt. Die Regisseurin ließ sich von den komparatistischen Tonaufnahmen des Musikethnologen Robert Lachmann (1892-1939) und dessen Vision, durch Musik die politische Trennung zu überwinden, inspirieren. Dabei teilte Davis ausdrücklich die Botschaft des Films, dass die Mittel der Musik in dieser Hinsicht begrenzt seien.

Ines Weinrich (Münster) verwies auf die Notwendigkeit, sich Methoden der Nachbardisziplinen anzueignen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass die durch das koloniale Niedergangsparadigma („decline paradigm“) bedingte Forschungslücke der arabischen Musik des 13. bis 18. Jahrhunderts noch bestehe. Hier sei es sinnvoll, den in den Religionswissenschaften vollzogenen Material Turn mitzugehen und sich kulturellen Konzepten über ihre bis heute tradierten sinnlichen Ausdrucksformen zu nähern. Beispielsweise könne die muslimische Trauerpraxis huzn als eine erst vermittels des Gesangs realisierte religiöse Haltung der Gläubigen beschrieben werden, womit auch die Frage danach, was das „Medium“ des Transzendenten sei, irrelevant werde. Da vergleichbare Ausdrucksformen auch in anderen Religionen und in säkularen Kontexten vorzufinden seien, erleichtere der Fokus auf das Ästhetische zudem, die Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen und Religionen zu untersuchen.

Die beiden Vorträge der zweiten Tageshälfte zum Thema „Issues of Locality and Nation in the 19th Century“ beschäftigten sich mit territorialen bzw. nationalen Implikationen von Kulturtransfer. Salah Eddin Maraqa (Freiburg i. Br.) präsentierte eine detaillierte Quellenkritik theoretisch-pädagogischer Traktate aus der Türkei und Ägypten. Der auf die intertextuellen Bezüge gerichtete Ansatz trug der Tatsache Rechnung, dass die Autoren (u. a. Hāṣim Beg, Muhammad Ḏākir Beg, Ahmad Amīn ad-Dīk, Muhammad Kāmil al-Hulaʿi) nicht auf ihre Quellen verwiesen. Vor dem Hintergrund des geopolitischen, kolonialen Kontexts konnte Maraqa einen Transfer westlicher Musiktheorie in die genannten Regionen und von der Türkei nach Ägypten nachweisen. Er betonte, dass Phänomene der Interkulturalität – hier die Übernahme einer ‚unpassenden‘ Notationsweise oder die Gleichsetzung von arabischer und türkischer Musik – erst durch die Analyse des Quellenmaterials erklärbar würden.

Mit der Bedeutung von pädagogischen Schriften im kulturpolitischen Kontext beschäftigte sich auch Ersin Mıhçı (Münster) in seinem Vortrag über die Indienstnahme der Schulmusik für das Nation building in Griechenland. Im Zuge von Reformbewegungen, die eine Verwestlichung und zugleich Entfremdung von der eigenen Tradition mit sich brachten, war die Schulmusik des 19. Jahrhunderts geprägt von der Adaption westlicher Melodien beispielsweise von Mozart oder Haydn. In dem Bestreben, Musik für die patriotische Erziehung zu nutzen, wurden Hymnen mit griechischen Texten versehen – z. B. in dem Lied Der junge Soldat auf die Melodie von Mathias Claudius’ Deutsches Weihelied, welches später wegen der osmanischen Zensur griechisch-patriotischer Inhalte in Der junge Student umgedichtet wurde. Erst seit der Jahrhundertwende umfassten die Schulbücher auch griechische Melodien, was auf eine neuerliche Zuwendung zur griechischen Tradition zurückzuführen sei.

Der zweite Tag begann mit drei Vorträgen zum Thema „Disrupted and Growing Communities“: Evrim Hikmet Öğüt (Istanbul) präsentierte ihre zwischen 2015 und 2019 durchgeführte ethnografische Studie zur Straßenmusik syrischer Flüchtlinge in Istanbul. Tala Jarjour (London) sprach über Geschichtsschreibung und Identitätsbildung am Beispiel syrisch-orthodoxer Communities und Matthew Machin-Autenrieth (Aberdeen) über die Bedeutung von Musik und interkulturellem Austausch für Fragen der Geschlechtergerechtigkeit. Vor dem Hintergrund, dass die öffentlichen Räume in Istanbul, die bis 2016 Symbol der politischen Linken und Austragungsort sozialer Proteste waren (Taksim Meydanı, Gezi-Park, İstiklal Caddesi), im Zuge neoliberaler Maßnahmen stillgelegt wurden, deutete Öğüt die Straßenmusik syrischer Flüchtlinge als eine Form des ‚unsichtbaren Widerstands‘. Öğüt griff dafür auf Konzepte von Asef Bayat und Richard Sennett zurück. Sie argumentierte, dass die Straßenmusik nicht nur als Ausweg aus der prekären finanziellen und sozialen Situation diene, sondern vor allem eine neue Form der Inkorporation in den öffentlichen Raum und somit einen politischen Akt darstelle: Als Social non-movement stelle sie eine adäquate Strategie für die Marginalisierten dar.

In ihrem Vortrag über die musikalische Praxis einer orthodoxen Gemeinschaft in Syrien stellte Jarjour zur Diskussion, ob die Oral History eine neue Form der Geschichtsschreibung begünstigen könnte, die jenseits reduktionistischer Dichotomien operiert. In den Gesprächen mit der Community in Aleppo hätten deren Mitglieder die Tatsache, dass sie ihre Musik sowohl im religiösen als auch im säkularen Kontext praktizieren, damit in Verbindung gebracht, dass die sakralen Melodien nach Andalusien exportiert wurden und später ihren Weg in die orientalische Popularmusik fanden. Diese Rekonstruktion direkt für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung zu übernehmen, begründete Jarjour damit, dass sie die Identitätsbildung besser abbilde als „positivistische“ historische Methoden. Sie sei nicht auf binäre Begriffe angewiesen und begreife Geschichte als „diskursiven Akt“.

Schließlich richtete Machin-Autenrieth mit seinem Vortrag über die Band Mujeres mediterraneas, die in ihren Stücken arabische und andalusische bzw. Flamenco-Musiktraditionen vermischt, den Blick auf „soziomusikalische Begegnungen“ zwischen Marokko und Spanien und deren Potential, auf Geschlechterungerechtigkeit zu reagieren. Die Zusammenarbeit der Frauen zeige, dass das Mittelmeer zwar kein definierter kultureller Raum sei, aber durch die Band und ihre Musik als eine „stage of interaction“ etabliert werde. In diesem Aktionsraum könnten künstlerische, soziale oder politische Ziele formuliert und ausgetauscht werden. Die Mujeres mediterraneas bildeten eine feministische „Komplizenschaft“, indem sie das Verbrüderungsnarrativ spanischer Kolonialisten gegenüber Marokko zu einer die Straße von Gibraltar überschreitenden „sisterhood“ umkehrten.

Die Vorträge des dritten Themenkomplexes, der unter dem Titel „Staging the Mediterranean“ stand, behandelten aus unterschiedlichen Perspektiven die Beziehungen zwischen Musik(-theater) und Identitätsbildung. Die von Caecilia Brenninkmeyer (Düsseldorf) und Kostas Kardamis (Corfu) vorgestellten Fallbeispiele zu den Maltesischen sowie zu den Ionischen Inseln machten deutlich, dass sich anhand solcher Ausschnitte wie unter einem Brennglas sowohl die koloniale Geschichte Europas und des Kulturtransfers als auch die Rolle der Oper für die Herausbildung nationaler Identitäten im 19. Jahrhundert untersuchen lassen. Brenninkmeyer hob in ihrem Vortrag emphatisch das Moment der kulturellen Ermächtigung hervor: Unter dem Einfluss der – durch italienische Flüchtlinge importierten – nationalstaatlichen Idee des Risorgimento eigneten sich die Malteser die zuvor der kolonialen (britischen) Herrscherklasse vorbehaltene Kultur an, insbesondere die italienische Oper. Ein ähnlicher Identifikationsprozess sei auch für den in den 1960er Jahren, zur Zeit der späten Unabhängigkeit des Inselstaats einsetzenden Konkurrenzkampfs zweier Opernhäuser auf Gozo zu beobachten. Anders geartet stellte sich, wie Kardamis ausführte, der Umgang mit dem ‚kolonialen Erbe‘ in der Republik der Ionischen Inseln dar. Historisch durch die wechselnden Besatzer aus der Republik Venedig, Frankreich und Großbritannien bedingt zeichnete sich die dortige Opernlandschaft vornehmlich durch die Übernahme europäischen Repertoires aus. Nachdem die große Zahl italienischer Opere buffe sogar als „nationale Krankheit“ bezeichnet worden war, komponierte Nikolaos Mantzaros 1827 (also während der Griechischen Revolution) die erste „Aria Greca“. Diese sei gewissermaßen die Vorbotin einer griechischen Oper, die im neuen nationalen Bewusstsein als „Rückkehr der Musen in ihre Heimat“ bezeichnet wurde.

Mit einem Zeitsprung in das Jahr 2014, in dem die Konzert-Installation Mediterranean Voices beim ECLAT Festival aufgeführt wurde, erörterte Thomas Betzwieser (Frankfurt) das Thema der Identität in der zeitgenössischen Musik. Am Beispiel der „Video-Konzert-Architektur über zwölf Identitäten aus dem Mittelmeerraum“ skizzierte er paradigmatisch zwei Herausforderungen. Erstens stelle sich, da die Medienkombination dokumentarisches Videomaterial beinhalte und deshalb sowohl einen historisch-philologischen als auch einen ethnologischen Zugang zulasse, die Frage nach dem methodischen Zugriff. Zweitens müsse das Konzept der „kulturellen Inkommensurabilität“ hinterfragt werden. Während das Festival auf „fragile mediterrane Identitäten“ verweise, seien durch das „interkulturelle Komponieren“ in der neuen Musik die eurozentrischen Konzepte selbst fragil geworden.

Das zweite Diskussions-Panel „Media/Sources/Material Studies“ kreiste um die Quellenproblematiken, vor die die Musikhistoriografie angesichts der Vielfalt und Hybridität ihrer Gegenstände gestellt ist. In ihrer Einleitung verwies Judith I. Haug (Istanbul) auf eurozentrische Relikte in den Methoden und Begriffen, die in den letzten Jahren jedoch zunehmend kritisiert worden seien. Anstatt zu fragen, was als Quelle oder als Musik gilt, sei die Geschichtlichkeit aller Musik anzuerkennen. Der Blick müsse geweitet, Hindernisse des Zugangs berücksichtigt und überwunden sowie die Errungenschaften der Digitalisierung für eine stärkere Zusammenarbeit genutzt werden.

So machte Ralf Martin Jäger (Münster) den Vorschlag, die Analyse und Edition musikalischer Quellen netzwerktheoretisch (nach Bruno Latour und Wolfgang Welsch) zu fundieren. Gegenstand seines Vortrags war die Übernahme der westlichen Notation für die osmanische Kunstmusik im Ägypten des 19. Jahrhunderts. Warum – so die zentrale Frage – galt das Hampartsum-Notationssystem als besser geeignet für die Modi und Rhythmen der arabischen Musik (maqām), und weshalb wurde trotzdem so häufig die westliche Notation verwendet? In Anbetracht der Tatsache, dass letztere im Zuge einer Annäherung an den Westen als „analytischer“ gewertet wurde, sei es lehrreich, die Notationssysteme im Zusammenhang mit den „kulturellen Konzepten“ Ambiguität und „Vereindeutigung“ (Thomas Bauer) zu betrachten: Gerade der Umstand, dass das Hampartsum-System nicht-analytisch und nicht-vereinheitlichend sei, könne als Vorteil gegolten haben, weshalb auch die westliche Notation im Kontext der osmanischen Kunstmusik eine „Ambiguisierung“ erfahren habe.

Auch in Elizabeth Elmis (Chapel Hill, N.C.) Vortrag über das neapolitanische Liedgut aus der Zeit der aragonesischen Herrschaft – eine oral tradierte Musikpraxis des späten 15. Jahrhunderts, die aber teils in Textquellen überliefert ist – stand die Untauglichkeit einfacher Kategorisierung angesichts einer von Mehrdeutigkeit geprägten musikalischen Landschaft im Zentrum. Trage man jedoch der sich in den Liedern niedergeschlagenen „hybriden Identität Neapels“ Rechnung, würden diese Lieder als Reaktionen auf die politische und soziale Situation, die von Konflikten, aber auch von Kooperation geprägt gewesen sei, verständlich – so etwa das Sonett O vos omnes qui transitis per la via, in dem sich u. a. lateinische, italienische und kastilische Sprache, spanische Liedform und Verweise auf die süditalienische Kultur sowie auf das Königshaus Neapel vermischen, und in welchem auch die Grenze zwischen sakralem und profanem Bezugsrahmen verschwimmt.

Gegen eine Nivellierung von Ambiguitäten argumentierte auch Anas Ghrab (Sousse) im Hinblick auf den „mediterranen Kontext“ der tunesischen Musikkultur, deren Stereotypisierung als „arabische Musik“ ihrem facettenreichen historischen Hintergrund nicht gerecht werde. Allein die Vielzahl der Alphabete verweise auf den Einfluss der Amazigh, des Judaismus, der Phönizier, der Griechen und der Römer, und in den musiktheoretischen Überlieferungen zeige sich die Rezeption griechischer Philosophie, christlicher Lehren und jüdischer Symbole. Dass das Land und seine Musik nicht nur von der arabischen und französischen Kolonialzeit geprägt sind, lasse sich noch heute an der Pluralität der musikalischen Stile und der Ambiguität der Stücke ablesen. Da sie sich einer einfachen Kategorisierung widersetze, müsse die Musik in all ihren „Schichten“ untersucht werden – etwa die Kunstmusik maʾlūf, die auch im religiösen Kontext erklingt, oder die Psalmen, die teilweise vorislamischen Ursprungs sind.

Mit dem Beitrag von Signe Rotter-Broman (Berlin) lag das Augenmerk auf dem ersten Schlagwort des Themenblocks „Knowledge, Identity, and Nation“. An Martin Greves Begriff der „imaginierten Region“ anknüpfend, richtete sie den Blick auf die Wissensordnungen, die sich in der mitteleuropäischen Musik widerspiegeln – so auch in der Maréorama-Attraktion auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900. Die Installation bestand aus einem mit einer komplizierten Mechanik und vorbeiziehenden Gemälden ausgestatteten Schiff, das auf eine ‚Reise‘ über das Mittelmeer führte, begleitet von Henri Kowalskis Symphonie Illusion d’un voyage en mer. Sowohl in den Gemälden als auch in der Musik zeichne sich die (durch Exotismen kaschierte) Uninformiertheit der europäischen Künstler über den Mittelmeer-Raum ab. Insbesondere die stereotype Gegenüberstellung von modalen und tonalen, vermeintlich „tunesischen“ und „europäischen“ Elementen mache deutlich, dass die Sichtweise der Europäer auf den „Französischen See“ tatsächlich illusionär war.

Das letzte Panel zum Thema „Migration und Transfer“ wurde von Sabine Ehrmann-Herfort (Rom) eingeleitet, die die kulturelle Mobilität im Italien des 16. und 17. Jahrhunderts in den Blick nahm. Ausgehend von einem Zitat Athanasius Kirchers, aus welchem dessen Unbehagen bei fremden Klängen hervorgeht, lautete die These, dass die Herausbildung einer „römischen Identität“ die Abgrenzung von einem „Anderen“ erforderte, was auch in den herabwürdigenden Karikaturen dieser Zeit zum Ausdruck komme. Da es im multikulturellen Italien zwar vielfältige Interdependenzen, aber nicht zwangsläufig einen kulturellen Austausch gab, sodass auch die kulturellen Praktiken eher disparat nebeneinander existierten, sei der Begriff „Mittelmeer-Identität“ unpassend.

Sabine Meine (Köln) folgte in ihrem Vortrag den historischen Spuren des als „Tasso-Gesang“ bekannten Liedguts der Gondolieri Venedigs. Schon zu Goethes Zeiten, der wie Jean-Jacques Rousseau von den Gesängen berichtete, waren diese, auf Texte aus Torquato Tassos Gerusalemme liberata (1547) gesungenen Lieder zu einem touristischen Highlight avanciert und unterstrichen die romantisch-mythische Idee der Venetianitá. Unter dem Ideal der „Natürlichkeit“ fand die Volksmusik auch Einzug in die Kunstmusik: Eine Melodie ist als „Aria di Tasso“ in einer Geigensonate Giuseppe Tartinis (1692–1770) überliefert. Paul Nettl vermutete auf Völkerbewegungen zurückgehende Bezüge zur südslawischen Folklore und forderte, dies bei der Erforschung der venetischen Musik zu berücksichtigen. Bis heute hat sich die Praxis des Tasso-Gesangs auch außerhalb Venedigs gehalten und ist etwa in Polesine und Kroatien einer ethnologischen Forschung zugänglich.

Gewissermaßen die Gegenseite untersuchte Vjera Katalinić (Zagreb), deren Vortrag die Einflüsse Venetiens auf die Musik in Dubrovnik zum Gegenstand hatte. Mit dem Ziel, divergierende Formen der „musikalischen Migration“ zu unterscheiden, stellte sie drei „Modelle“ vor. Das erste umfasst die Theater- und Opernhäuser und den Transfer des italienischen Opernrepertoires. Die älteste Spielstätte wurde bereits 1612 eröffnet, ab dem späten 17. Jahrhundert ist die Existenz eines Opernhauses gesichert. Das zweite Modell betrifft den Import von Libretti und Partituren, die die oberen Schichten auch zur privaten Nutzung erwarben oder die in Klöstern und Bibliotheken gesammelt wurden und bis heute zugänglich sind. Das dritte Modell ist auf die Adaptionen und Arrangements des Opernrepertoires gerichtet, wobei als einziger Komponist des 18. Jahrhunderts nur Giulio Bajamonte tatsächlich das Material transformierte.

Fulvia Caruso (Pavia) schloss mit der Vorstellung einer aktuellen Studie das Panel zu Migration und Transfer ab. Ihr in Norditalien durchgeführtes Forschungsprojekt zielte auf den (musikalischen) Austausch zwischen den Einheimischen und den in einer Sammelunterkunft wohnenden Geflüchteten. Zum einen sollten dadurch Vorurteile abgebaut und Inklusion erleichtert werden, zum anderen Reflexion und Kommunikation durch Musik – insbesondere der Ausdruck der schrecklichen Erfahrungen – ermöglicht werden. Das Projekt habe gezeigt, dass kulturelle (und musikalische) Verwurzelung und Offenheit keine Gegensätze sind.

Die Schlussdiskussion eröffnete Thomas Betzwieser, indem er den von Martin Greve vorgeschlagenen Begriff der „imaginierten Topografie“ aufgriff: Mit ihm liege der Fokus auf einer Kritik der europäischen Imagination, es gelte aber zugleich, die außerhalb (Zentral-)Europas existierende Perspektive abzubilden. Hier sei der von Machin-Autenrieth vorgeschlagene Begriff der „stage of interaction“ fruchtbar, der das Moment des Empowerments betone und der unter den allgemeineren Begriff des „Performing“ gefasst werden könne. Im Anschluss wurde von unterschiedlichen Teilnehmer*innen dazu aufgerufen, an konkreten, lokalen Gegenständen zu arbeiten, um interkulturelle Gemeinsamkeiten greifbar zu machen und die „Schichten“ lokaler Identitäten wie die Ambiguität von Musik zu untersuchen.

Während dies in der Abschlussdiskussion breite Zustimmung fand, hatten sich in den Paneldiskussionen Bruchlinien zwischen den Disziplinen offenbart und produktive Fragen ergeben. Angesichts des kolonialen Erbes kreiste die Diskussion wiederholt um die Frage, wie mit Methoden und Begriffen umzugehen sei. Nachdem Martin Greve den Begriff der „imaginierten Topografie“ ins Spiel gebracht und vorgeschlagen hatte, die europäische Wissenschaftsgeschichte und ihre Begriffe einer dekonstruktivistischen Analyse zu unterziehen, wurde debattiert, was denn nach der Dekonstruktion käme. Martin Baumeister und Thomas Betzwieser stellten zur Debatte, inwieweit eine solche Analyse perspektivisch tragfähig sei, neuen Konzepten und Forschungsweisen den Weg zu bahnen.

Damit verwiesen sie indirekt auf einen größeren, aber entscheidenden Fragenkomplex, nämlich die Differenzen zwischen einer kulturwissenschaftlich fundierten und einer auf musikalische Quellen konzentrierten Herangehensweise. Dieser Konflikt erschien beispielhaft in einer Auseinandersetzung zwischen Tala Jarjour und Salah Eddin Maraqa. Der anhand von Jarjours Feldstudien skizzierte Transfer syrischer Gesänge nach Spanien und von dort zurück in die syrisch-orthodoxen Communities könne, so Maraqa, mit Blick auf das erhaltene Quellenmaterial nicht bestätigt werden. Aufgrund musikalischer Parameter und der Quellenlage könne das präsentierte Musikbeispiel nicht älter als 200 Jahre alt sein. Während Jarjour die Beschränkung auf schriftliche Quellen als positivistisch bezeichnete, argumentierte Maraqa, dass unterschiedslos alles behauptet werden könne, wenn man die Quellen missachte, und stellte damit die Wissenschaftlichkeit der Methode in Frage. Ines Weinrich vermittelte zwischen beiden Standpunkten, indem sie darauf hinwies, dass für die Musikethnologie weniger interessant sei, ob das von der Oral History Übermittelte tatsächlich stimme, sondern warum bestimmte Narrative für die Community von Bedeutung seien.

Dass es teils Schwierigkeiten gab, sich auf Kriterien zu einigen, zeigte sich auch an den unterschiedlichen Einschätzungen des politischen Potenzials von Kunst und Wissenschaft. Während Ruth Davis betonte, dass dieses Potenzial nicht überschätzt werden dürfe, unterstrichen Tala Jarjour und Evrim Hikmet Öğüt die politisch-gesellschaftliche Wirkungsfähigkeit von musikalischen und wissenschaftlichen Praxen.

Insgesamt war die Tagung charakterisiert von einem regen und offenen Austausch über historische und zeitgenössische musikalische Phänomene sowie über methodische und erkenntnistheoretische Fragen. Der Tagungsbericht soll in der Reihe Analecta Musicologica des Deutschen Historischen Instituts Rom publiziert werden.