Das Italienische Madrigal. Alfred Einsteins „Versuch einer Geschichte der italienischen Profan-Musik im 16. Jahrhundert“ und die Folgen

München, 16.-18.03.2022

Von Charlotte Steup, München – 04.09.2022 | Anlässlich des 70. Todestages von Alfred Einstein und der erstmaligen Edition seines Buches Das Italienische Madrigal in deutscher Originalgestalt durch Sebastian Bolz (München) trafen auf der internationalen Tagung im Rahmen des Renaissance-Netzwerks Troja verschiedene Ansätze der Re-Lektüre in einer multiperspektivischen und transdisziplinären Debatte aufeinander. Die facettenreiche Auseinandersetzung mit Einsteins Standardwerk zur weltlichen Vokalmusik im 16. Jahrhundert erstreckte sich von fach- und wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungen über historiographische beziehungsweise musikhistorische Fragen bis zu biographischen Überlegungen, die vielfach Zwischenzustände thematisierten. So nahmen nicht nur Dynamiken zwischen Nationen, Kulturen und Disziplinen eine zentrale Rolle ein, sondern auch die zeitliche Differenz zwischen Einsteins und heutiger Madrigalforschung, die mediale Divergenz zwischen alten und modernen Publikationsformen sowie die räumliche Diskrepanz zwischen realem und virtuellem Raum innerhalb des hybriden Tagungsformates. Das Konzert der Gruppe Profeti della Quinta bedeutete als Zusammenführung von Wissenschaft und musikalischer Praxis nicht nur klanglichen Genuss, sondern bereicherte die Debatte hinsichtlich der künstlerisch-ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Madrigal.

Der inhaltliche Schwerpunkt des ersten Tages lag auf wissenschaftsgeschichtlichen und historiographischen Perspektiven. Iain Fenlon (Cambridge, UK) legte mit seinem eröffnenden Keynote-Beitrag „Music Print and Culture. Einstein Revisited“ ein Fundament für die folgende Debatte, indem er den kulturgeschichtlichen Hintergrund von Einsteins Quellen, die Notendrucke der italienischen Renaissance, umfassend besprach und zentrale Begriffe einführte. Insbesondere seine Schlussfolgerung, dass die frühen Madrigale in sogenannten „microsocieties“ kursierten, wurde bis zur abschließenden Podiumsdiskussion immer wieder aufgegriffen.

Philippe Canguilhem (Tours) erörterte die Unterschiede zwischen der chronologischen Quellendarstellung in Das italienische Madrigal und dem aktuellen Forschungsstand zur Madrigalgeschichte. Dabei zeigte er die forschungsgeschichtliche Bedeutsamkeit von Einsteins Transkriptionen für die Erschließung des Notenmaterials sowie die Dokumentation des historischen Kontextes. Zentral kritisierten Fenlon und Canguilhem Einsteins Fokussierung auf gedruckte Quellen bei gleichzeitiger Vernachlässigung von handschriftlichen Überlieferungen. Während Einstein auf dieser Basis eine „artistic pause“ in der Madrigalgeschichte festgestellt hatte, wurde dies in der neueren Forschung anhand der quantitativ dominierenden Manuskripte jener Zeit widerlegt.

Als schwierige Aufgabe voller Irritationen beschrieb Laurie Stras (Huddersfield) ihre Re- Lektüre, da sie sich bei der Auseinandersetzung mit Einsteins „Aesthetics of Singing“ immer wieder mit Einsteins traditionalistischen und frauenfeindlichen Prämissen konfrontiert sah. An Einsteins Text demonstrierte sie die Binarität seiner ästhetischen Einordnungen sowie seine Abneigung gegenüber Sängerinnen und konstatierte, dass Einstein entweder das Klangpotenzial der Noten nicht erkannt hatte oder dieses bewusst ablehnte.

Ein großer Vorteil des hybriden Tagungsformats zeigte sich im Vortrag der Kunsthistorikerin Henrike C. Lange (Berkeley), die trotz der pandemiebedingten Reisebeschränkungen via Zoom teilnehmen konnte. Ihre Überlegungen zu Einsteins Erfahrung, Einflussnahme und Identität in Berkeley illustrierte sie mit archivalischen und eigenen Fotografien, welche den räumlichen und zeitlichen Brückenschlag zwischen ihrer und Einsteins Gegenwartswahrnehmung visuell realisierten.

In seiner Buchpräsentation stellte Sebastian Bolz die Geschichte und die Quellenlage des deutschen Originaltextes von Das italienische Madrigal sowie die geplante hybride Veröffentlichung seiner Edition vor. In Hinblick auf die teilweise gravierenden Unterschiede zwischen dem englischen und deutschen Text verspricht insbesondere die digitale Ausgabe der Hybridpublikation darstellungstechnische Vorteile, etwa den direkten Zugang zu den zahlreichen Musikbeispielen.

Der erste thematische Fokus des zweiten Tages lag auf historiographischen Perspektiven aus transdisziplinärer Sicht. Anna Bredenbach (Erfurt) analysierte in ihrem Zoom-Vortrag „Das Madrigal erzählen. Alfred Einsteins Gattungsgeschichte in narratologischer Perspektive“ die Oberfläche des Primärtextes. Sie stellte sowohl zeittypische Erzählmuster als auch rhetorische Besonderheiten wie zahlreiche Metaphern und Exklamationen in Einsteins Sprachgebrauch fest. Insgesamt betonte sie einen „unverblümten Mut zum Erzählen“, den es in der heutigen musikhistoriographischen Schreibung nicht mehr gebe.

Der Romanist Florian Mehltretter (München) ging in seinem Beitrag über das „Madrigal als literarische Gattung“ auf Ulrich Schulz-Buschhaus’ 1969 erschienene Publikation Das Madrigal. Zur Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und Barock ein. Textkritisch präsentierte Mehltretter wesentliche Thesen zum Trecento- und Cinquecento- Madrigal und gelangte zu dem Schluss, dass die gemeinsame Betrachtung von literarischem und musikalischem Madrigal – trotz aller Unterschiede – nicht zuletzt wegen der ähnlichen historischen Entwicklung zu freieren Formen im 16. Jahrhundert lohnend sei.

Die Kunsthistorikerin Karolina Zgraja (Zürich) untersuchte in ihrem Vortrag die „Madrigalforschung Alfred Einsteins im Verhältnis zur italienischen Kunst der Frühen Neuzeit und ihrer kunsthistorischen Erforschung“ zwischen Jacob Burckhardt und Erwin Panofsky und skizzierte damit die historischen Zusammenhänge von Kunst- und Musikgeschichte in Das italienische Madrigal. Zudem legte sie anhand verschiedener Textquellen – darunter Auszüge aus Einsteins Publikationen, Korrespondenzen, Tagebucheinträgen und seiner Autobiographie – dessen Kenntnisreichtum bezüglich bildender Kunst sowie Verbindungen zu zeitgenössischen Zentralgestalten der Kunstgeschichtsforschung offen.

Inga Mai Groote (Zürich) und Katelijne Schiltz (Regensburg) diskutierten die räumlichen und zeitlichen Dimensionen von Einsteins Madrigal in ihrem gemeinsamen Beitrag. Im ersten Teil stellte Groote Einsteins idealisierte und italozentrische Verortung des historischen Madrigals innerhalb des elitären männlichen Kennerkreises in Norditalien vor. Im zweiten Teil setzte sich Schiltz mit dem musikgeschichtlichen Ort von Einsteins Madrigal auseinander und verwies dabei insbesondere auf ein zyklisches Geschichtsverständnis.

Der zweite thematische Schwerpunkt des Tages lag auf musikhistorischen Perspektiven, wobei Aspekte des aktuellen Forschungsstandes präsentiert und diskutiert wurden. Zunächst untersuchte Antonio Chemotti (Leuven) Einsteins Monteverdi-Bild und damit die prominente Würdigung Monteverdis in Das italienische Madrigal. Danach gab er einen Einblick in seine Umfrage zur Rezeption von Einsteins Standardwerk unter italienischen Musikwissenschaftler*innen. Die Umfrage ergab unter anderem, dass keine*r der 16 Teilnehmer*innen das Werk vollständig gelesen hatte, woraus Chemotti ein nationales Ungleichgewicht zwischen Italien und Deutschland bezüglich Einsteins Präsenz und Bedeutung ableitete.

Einen ähnlichen Forschungsansatz wählte Daniele Filippi (Turin) in seinem Beitrag zu Luca Marenzio. Zuerst analysierte er dessen exzeptionelle Bedeutung in Einsteins Werk und präsentierte eine Übersicht der zentralen Marenzio-Veröffentlichungen, welche auf die Publikation von Das italienische Madrigal folgten. Abschließend stellte er das Marenzio Project vor, wobei er die zentrale Bedeutung von Marenzios Textauswahl für seinen Kompositionsstil betonte.

Paul Schleuse (Binghamton) bereicherte die Debatte, indem er sich in seinem Beitrag „Orazio Vecchi, Adriano Banchieri, and The Anxieties of Entertainment“ mit Gattungen wie der Canzonetta auseinandersetzte, die in Einsteins Text neben dem Madrigal besprochen werden. Vor dem Hintergrund der Fragen, wie Einstein Vecchis und Banchieris Werke bewertete und welche Quellen er nutzte, analysierte Schleuse sowohl Musikalien als auch visuelle Quellen in Form von Holzschnitten in originalen Drucken. Daneben thematisierte er Einsteins ästhetische Bewertung zwischen derartiger „Unterhaltungsmusik“ und „ernsthafter“ Musik der Wiener Klassik.

Die Diskussion um Nationalismus in Das italienische Madrigal wurde von Kate van Oden (Cambridge, MA) zu einem Höhepunkt gebracht, die in ihrem Zoom-Vortrag Einsteins Sicht auf die musikalische Überlegenheit des – in der Realität damals nicht existenten – italienischen Staates in der Renaissance erörterte. Vor diesem Hintergrund beleuchtete sie Einsteins Auseinandersetzung mit den Chansons der frankoflämischen Komponisten Verdelot und Arcadelt und stellte dem Text neue Erkenntnisse zum transkulturellen Austausch der Reisenden in der Renaissance gegenüber.

Zum Abschluss diskutierte Giovanni Zanovello (Bloomington) den gattungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Frottola und Madrigal, welche im Laufe der Tagung mehrfach angesprochen wurde. Während die beiden musikalischen Gattungen bei Einstein in einer unmittelbaren Traditionslinie stehen, zeigte Zanovello die historische Diffusität der Frottola und die heutige Schwierigkeit, deren musikgeschichtliche Einflussnahme zu definieren.

Der dritte Konferenztag beleuchtete biographische Perspektiven. Der erste Beitrag von Benjamin Ory (Stanford) und Moritz Kelber (Bern) rückte das Thema Exil als musikhistorisches und biographisches Phänomen in den Vordergrund. Im ersten Teil zeichnete Ory Einsteins Aufenthaltsorte zwischen 1933 und 1939 nach und zeigte, welche Quellen er in dieser Zeit konsultieren konnte. Dabei hob er die Bedeutung von Einsteins jüngerem Kollegen Edward Lowinsky hervor. Im zweiten Teil entwickelte Kelber die These, dass die Komponisten mit internationaler Herkunft in Das italienische Madrigal italianisiert worden seien. Zusammenfassend stellte er fest, dass Einsteins Denken über Musik von seiner Migrationserfahrung beeinflusst wurde.

Christina Urchueguía (Bern) beschäftigte sich umfassend mit Einsteins Tätigkeit als Herausgeber. Dabei korrigierte sie die einschlägigen Bibliographien der MGG und des LexM und setzte sie sich mit Einsteins Editionspraxis auseinander. Darüber hinaus diskutierte sie sein Netzwerk an Verlegern und Unterstützern, besprach seine editorischen Internationalität und würdigte Das italienische Madrigal schließlich als Synthese aller von Einstein gepflegten Wissenschaftsgenres.

In der abschließenden Podiumsdiskussion unter dem Motto „What’s next?“ setzten sich Irene Holzer (München), Florian Mehltretter, Katelijne Schiltz und Giovanni Zanovello mit den Perspektiven der Madrigalforschung im digitalen Paradigma und der Zukunft der Fachgeschichte auseinander. Den Auftakt bildeten Holzers Ausführungen zu möglichen Ursachen für die untergeordnete Rolle des heutigen Standardwerkes Das italienische Madrigal in der deutschen Forschungstradition. Danach wurde die generelle Problematik eines adäquaten Umgangs mit historischen Fachtexten diskutiert, wobei Schiltz und Zanovello die Vielfalt von Zugangsmöglichkeiten und Lesarten betonten. Mehltretter gab einen Einblick in den gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Diskurs, in dem die Verknüpfung von Werk und Biographie – bei Einstein eine Selbstverständlichkeit, doch lange Zeit ein regelrechtes Tabu in der Wissenschaftswelt – neue Aktualität erlange. Es folgte eine intensive Debatte über die heutige Möglichkeit von „great books“, wobei zwei diametral entgegengesetzte Ansätze aufeinanderprallten, nämlich die Utopie, ein Buch wie „Das italienische Madrigal“ (alleine) zu verfassen, und die Veröffentlichungspraxis von Überblickswerken und Gesamtdarstellungen. Vor dem Hintergrund der Musikkritik in Einsteins Werk wurde auch diskutiert, ob Musikhistoriker*innen gleichzeitig Kritiker*innen sein sollten. Auch Vor- und Nachteile von Open Access und geeignete Vermittlungsmethoden im digitalen Zeitalter mit Rückbezug auf die anstehende Hybridpublikation von Das italienische Madrigal kamen – durchaus kontrovers – zur Sprache. Auf die abschließende Frage, welche Richtung die Madrigalforschung einschlagen könnte, äußerten die vier Podiumsteilnehmer*innen den Wunsch nach einem kooperativen Projekt, welches sowohl die Hintergründe der Forschungsgeschichte als auch die soziologischen Zusammenhänge der Madrigalgeschichte untersuchen könnte.

Insgesamt stellte die Tagung eine große Bereicherung für viele Themenfelder dar, von der Madrigal- beziehungsweise Einstein- Forschung über Disziplin- und Wissenschaftsgeschichte bis zu modernen Editionsformen. Deshalb ist nicht nur die Hybridpublikation von Das italienische Madrigal mit Spannung zu erwarten, sondern auch der Tagungsband, der tieferen Einblick in den Erkenntnisreichtum dieser Konferenz geben wird.

Tagungsprogramm