Mechanical technologies and their transfers. Theoretical considerations on performance analysis and its practical realisation

Berlin, 07.04.2022

Von Jörg Holzmann, Bern/Salzburg – 19.12.2022 | An der Technischen Universität Berlin fand das dritte von fünf Symposien innerhalb des vom britischen Arts and Humanities Research Council finanzierten Forschungsnetzwerks Redefining Early Recordings as Sources for Performance Practice and History statt. Eva Moreda Rodríguez (University of Glasgow) und Inja Stanović (City, University of London) leiten das Projekt gemeinsam mit Karin Martensen (Technische Universität Berlin) als internationaler Partnerin. Es bringt Forscher, Interpreten, Kuratoren, Techniker und Sammler aus der ganzen Welt zusammen, die sich mit frühen Tonaufzeichnungen befassen. Nachdem der Fokus bei der ersten Konferenz im September 2021 in Huddersfield auf der Anwendung historischer Aufnahmen in praxisbasierter Forschung lag, bildete deren Definition als komplexe Quellengattung, welcher mit großer methodologischer Vielfalt begegnet werden muss, den Schwerpunkt der zweiten Tagung, die im Januar 2022 in Glasgow stattgefunden hatte. Das dritte Symposium war nun historischen mechanischen Technologien und deren Transfer gewidmet, wobei sich insgesamt sechs Forscher*innen in fünf Vorträgen mit den Möglichkeiten einer Nutzbarmachung für die Interpretationsforschung beschäftigten.

Mit einem Blick auf die Auswirkungen technischer Gegebenheiten auf den Gesang bei frühen Aufnahmen eröffnete Karin Martensen (Technische Universität Berlin) die Vorträge. Dass die Ästhetik einer Tonaufnahme untrennbar mit der Praxis des Singens und der Geschichte des Körpereinsatzes verbunden sei, wurde zunächst an den von Edison und seinen Kollegen über Jahrzehnte durchgeführten Stimmversuchen verdeutlicht. Wie dies in den Emil Berliner verpflichteten Studios von statten ging und welche Resultate dort erzielt wurden, illustrierte Martensen anhand von Dokumenten aus den Archiven in Hayes (EMI) und New York (Sony). In beiden Fällen zeigte sich, dass schon die frühe Tonaufnahme und ihr klangliches Ergebnis erheblich vom musikalischen Geschehen auf der Bühne abwichen, da nicht nur die Tonaufzeichnungsgeräte und ihre Komponenten Einfluss auf das klangliche Ergebnis hatten, sondern auch die an der Aufnahme beteiligten Personen selbst.

Kilian Sprau (Universität der Künste Berlin) ging der Frage nach, inwiefern der Übergang vom Belcanto hin zur Ästhetik des Verismo ein angemessener Parameter bei der Auswertung historischer Tonaufnahmen darstellen könne und verortete Enrico Carusos Gesang innerhalb dieses stilistischen Wandels. Die Belcanto-Tradition zeichnet sich laut Sprau durch den Primat und die Integrität der Gesanglinie, die Verschmelzung von Textartikulation und Klang der Stimme sowie den elaborierten Einsatz von Ornamentik aus. Im Zuge des „Veristic turn“ tritt dies zugunsten der Betonung starker Kontraste und des Einsatzes naturalistischer Effekte wie etwa Schluchzen in den Hintergrund, was eine Aneinanderreihung durchaus interessanter, aber isolierter musikalischer Ereignisse zur Folge hat. Nachvollzogen wurde dieser Stilwandel anhand dreier Aufnahmen desselben Rezitativs: „Se quell guerrier io fossi!“ aus dem ersten Akt von Verdis Aida. Die ausgewählten Analysekriterien waren hierbei Abweichungen von der notierten Tonhöhe und die Stimmhaftigkeit gesungener Konsonanten. Während bei Enrico Caruso (1911) die musikalische Linie im Vordergrund stand, war bei Mario del Monaco (1951) ein deutliches Hervorheben einzelner Effekte zu erkennen. Bei der zeitlich dazwischenliegenden Aufnahme mit Francesco Merli (1926-30) hingegen hielten sich die beiden stilistischen Prinzipien die Waage.

Von ihrer Suche nach dem „Phonographeneffekt“ berichteten Frithjof Vollmer (Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart) und Boris Bolles (Erich-Thienhaus-Institut Detmold). Ausgehend von Mark Katz’ Annahme, dass der ursprüngliche Geigenklang in historischen Aufzeichnungen so stark modifiziert wurde, dass die Geiger in ihrem Spiel unweigerlich darauf reagieren mussten, wurde eine Einspielung Fritz Kreislers mit seinem „Liebesleid“ aus dem Jahr 1911 nachgestellt, wobei die ursprünglichen Modifikationsketten (Impulsantworten) auf 20 historische Grammophon-Setups zunächst digital ermittelt und dann auf das Reenactment angewendet wurden. Ein besonderes Augenmerk lag dabei neben Artikulation und Klangfarbe vor allem auf Vibrato und Portamento. Zusätzlich wurden in einer kleinen Pilotstudie mit Musikstudierenden die Auswirkungen auf die Wahrnehmung jener „gespielten Geigengesten“ gemessen, wobei sich herausstellte, dass sowohl die historische Zunahme des Vibratos als auch die Abnahme des Portamentos vorwiegend psychoakustische Gründe haben könnten, während Veränderungen der Artikulation und der Klangfarbe als direkt physisch beeinflusst einzustufen seien.

Grundlegenden Überlegungen zum Balanceakt zwischen Wissenschaft und Kunst bei musikalischen Reenactments allgemein und solchen von historischen Tonaufnahmen ging Johannes Gebauer (Hochschule der Künste Bern) nach. In der Archäologie, der Kriminologie und in zahlreichen anderen Disziplinen sind diese Nachstellungen der Vergangenheit zu einer etablierten Methode für verschiedene wissenschaftliche Forschungsansätze geworden und auch in der Interpretationsforschung kommen sie zunehmend zur Anwendung. Bei künstlerischen Ereignissen werfe das Konzept jedoch grundlegende Fragen und Probleme auf, wie etwa die Abgrenzung zum rein kreativen Prozess. Wird die Nachstellung historischer Aufnahmen jedoch in einer kontrollierten Umgebung als Versuch, den ursprünglichen Prozess nachzuvollziehen, durchgeführt, so ist dies laut Gebauer eine Methode wissenschaftlicher Wahrheitsfindung. Als solche kann sie darüber hinaus weiterhin als Vorbereitung für einen kreativeren Ansatz gesehen werden, aber auch rein dazu dienen, wissenschaftliche Hypothesen zu überprüfen und anderweitig unerklärliche Phänomene historischer Aufführungen zu verstehen. Anschaulich untermalt wurden Gebauers Ausführungen durch eigene Erfahrungen als Geiger im Projekt „Chasing Dr. Joachim“.

Den Abschluss der Tagung bildete João Romão (Humboldt Universität Berlin) mit Ausführungen zu Karl-Heinz Stockhausens in den Jahren 1964/65 entstandener Mikrophonie I, die als eines seiner bedeutendsten Werke und wegweisend in der Produktion elektronischer Musik außerhalb professioneller Studios gilt. In dieser aufgezeichneten Performance setzte Stockhausen das Mikrofon nicht zur bloßen Aufnahme von Klängen, sondern als Werkzeug zur aktiven Manipulation derselben ein. In seinem Beitrag stellte Romão Stockhausens „self-adulatory narrative“ in Frage und zeigte, wie dieser Praktiken und Fachwissen, die traditionell eher mit der Palette eines Toningenieurs in Verbindung gebracht werden, gleichsam in die Hand des Komponisten zurückholte. Ausgehend von einer kultur- und mediengeschichtlichen Perspektive konzentrierte sich die Analyse auf den Transfer technischer Fähigkeiten, die daraus resultierende Aufhebung strikter Genregrenzen und den Einfluss dieses Vorgangs auf die Klanglandschaft (West-)Deutschlands in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.