Schillers Freude, Adornos Leid: Beethovens Neunte zwischen Affirmation, Appell und Utopie. Hans-Joachim Hinrichsen zum 70. Geburtstag

Hamburg, 30.06.2022

Von Tim Martin Hoffmann, Berlin – 20.12.2022 | Ein Jubiläum ohne die aktive Beteiligung des Jubilars zu feiern, war für die Organisatoren der Tagung, Ivana Rentsch, Klaus Pietschmann und Matthias Schmidt, aus naheliegenden Gründen keine Option. Denn auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2018 ist Hans-Joachim Hinrichsen mit zahlreichen Vorträgen, Aufsätzen, Herausgeberschaften und der grundlegenden Monographie Ludwig van Beethoven. Musik für eine neue Zeit ein zentraler Akteur der Musikwissenschaft geblieben. Dass von einem „Spätstil Hinrichsens“ längst noch keine Rede sein kann, vielmehr das Ende der „heroischen Phase“ auch in Erwartung des 70. Geburtstages noch nicht in Sicht ist, brachte Ivana Rentsch in ihren einführenden Worten auf den Punkt. Zugleich unterstrich sie die herausragenden didaktischen Fähigkeiten sowie das immense Engagement als Hochschullehrer, mit dem der Gefeierte neunzehn Jahre lang als Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich wirkte und das er jüngst auch als Seniorprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin unter Beweis stellte. Wer einmal eine Lehrveranstaltung bei Hans-Joachim Hinrichsen besucht hat, wird unterschreiben können, wie begeisternd seine Lehre war und ist.

Angesichts dieser ungebrochenen Produktivität und Leidenschaft für Lehre und Forschung schien es also mehr als folgerichtig, dass der Jubilar den Titel der Tagung sowie die sechs zu den Organisatoren hinzutretenden Referierenden frei wählen durfte – dies unter der einzigen Bedingung, dass er selbst den Eröffnungsvortrag und ein Schlusswort beisteuerte. Mit dem Wunsch, die eigene Begeisterung auch für die Literatur und die Philosophie einzuholen, fiel die Wahl des Gegenstandes rasch auf Ludwig van Beethovens Neunte Symphonie. Dass mit diesem mehr als kanonischen Werk, um das Schlusskapitel von Hans-Joachim Hinrichsens erwähntem Beethoven-Buch zu paraphrasieren, eben noch nicht Schluss sei, konnte die Tagung mit Blick auf so anregende wie facettenreiche Impulse bestätigen.

Den inhaltlichen Auftakt steuerte der Jubilar mit seinem grundlegenden Vortrag „Des einen Freude, des andern Leid. Schiller, Adorno und Beethovens Neunte“ bei. Spätestens seit Theodor W. Adorno die Neunte Symphonie und die Missa solemnis als exoterische Spätwerke aus seinem Essay Spätstil Beethovens ausgeklammert hat, haftet der Neunten das Etikett eines schwierigen Werkes an. Die in der Adorno-Nachfolge vielfach problematisierte Emphase, mit der Beethoven im Schlusssatz die Freude als weltumspannendes Prinzip besingen lässt, führt in der historischen Perspektive jedoch unmittelbar in die Epoche Immanuel Kants zurück. Dass sich dessen Zeitgenosse Beethoven mit der kantischen Philosophie als einer radikalen Philosophie der Freiheit zeitlebens beschäftigte – dies freilich weniger theoretisch als der in den 1790er Jahren zum intensiven Kant-Leser gewordene Friedrich Schiller –, bezeugt besonders eindrücklich seine umfangreiche Redaktion der 1785 verfassten Ode An die Freude. Indem Beethoven das ursprünglich neun Strophen umfassende „Lied des unsterblichen Schiller“ beträchtlich kürzte und auf die Aspekte von Freude, Verbrüderung und Schöpferpostulat zuspitzte, flößte er dem Text gleichsam „Kants Geist aus Schillers Händen“ ein und antizipierte jene philosophische Begegnung, die biographisch erst Jahre nach der Entstehung der Ode zustande gekommen ist. Paradigmatisch wohnt dem in der Neunten, ganz ähnlich wie in der Missa solemnis, auch musikalisch gewagten Blick übers „Sternenzelt“ schließlich ein utopisches Potential inne, das die Analogie zum Beschluss von Kants Kritik der praktischen Vernunft („der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“) offen zu Tage treten lässt. So gebärdet sich die Neunte eben nicht, wie Adorno meinte, „als wäre Freude schon in der Welt“, sondern erinnert gleichermaßen an die Grundfesten der kantischen Philosophie wie an die hoffende Naherwartung einer Zeit, in der sich die gesamte Weltordnung an den Prinzipien der praktischen Vernunft zu messen habe.

Diesen von Hinrichsen gesteckten diskursiven Rahmen lotete anschließend Arne Stollberg mit Blick auf Schillers Ode als Adorno per se fernstehendes „trunkenes Lied“ weiter aus. In der Rezeptionsgeschichte vor allem durch Richard Wagner und Friedrich Nietzsche belegt, fungiert das dionysische Prinzip des Rausches als Zugang zum Finale der Neunten, der sich zugleich dem Bereich des Performativen öffnet. Wagners Diktum vom „idealen Gottesdienst“, der auch das Publikum zur Partizipation aufrufe, spiegelt dabei die rezitativische Ansprache des Baritons an die Übrigen, in der die Aufführung ihre eigene Verortung im Hier und Jetzt performativ zur Darstellung bringt: „O Freunde! nicht diese Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen! und Freuden vollere.“ Wird in der Exegese dieser Zeilen zumeist auf die alliterierenden Begriffe von Freude und Freundschaft abgehoben, fokussierte Stollberg hingegen den Aspekt des Angenehmen. Von Kant in der Kritik der Urteilskraft mit der Musik enggeführt, allerdings dem Schönen und Guten nachgeordnet, wird das Angenehme in Johann Gottfried Herders Kalligone gleichsam in die Beletage der Ästhetik emporgehoben und als grundlegend für die Ideen des Schönen und Guten erachtet. Wenn Herder am gleichen Ort formuliert, dass „die Wollust der Tonkunst […] in der Berauschung“ wirke, kann in Beethovens Vertonung des „trunkenen Liedes“ schließlich eine ideelle Zeitgenossenschaft nicht nur zu Kant, sondern gleichermaßen zu Herder erkannt werden.

Anknüpfend an Hinrichsens kritische Reflexion von Adornos Beethoven-Deutung betrachtete Felix Diergarten den langsamen Satz der Neunten im Licht einer formalen Integration des Disparaten. Wenn Adornos Spätstil-Definition die Neunte und die Missa solemnis gerade deshalb ausschließt, um an der Deutung festhalten zu können, dass das „Formgesetz der Spätwerke […] von der Art“ sei, „daß sie nicht im Begriff des Ausdrucks aufgehen“, es vom „letzten Beethoven“ vielmehr „höchst ‚ausdruckslose‘, distanzierte Gebilde“ gäbe, so bezeugt ein Blick auf die Form des Adagios geradewegs das Gegenteil. In der von Diergarten gezeigten Anlage als aufgelöste Doppelvariation mit Interpolationen knüpft das Adagio der Neunten einerseits an Formprinzipien der langsamen Sätze aus der Dritten, Fünften und Siebten Symphonie an. Andererseits steht der Satz singulär in Beethovens Schaffen, dies vor allem hinsichtlich der sanften Übergänge zwischen Variationen und Interpolationen, die eine Art neue Milde im Spätwerk erkennen lassen. Zudem inszeniert das Adagio eine sukzessive Auflösung des anfänglichen Formplans, um schließlich in das Finale münden zu können. Trug sich Beethoven in seinen Skizzen mit dem Gedanken, die dortige Rekapitulation des langsamen Satzes mit den Worten „es ist zu zärtl[ich]“ zurückzuweisen, ebnet diese Auflösung bereits den Weg zum finalen Aufschwung vom Zärtlichen zur Freude. So wird Beethoven in der von Adornos Spätstil-Diagnose ausgenommenen Neunten letztlich geradewegs als „Meister des kleinsten Übergangs“ ersichtlich.

In seinem Beitrag „Freude und Enthusiasmus als (ästhetische) Ideen. Schiller – Kant – Beethoven“ betrachtete Jürgen Stolzenberg das philosophische Gebäude der Neunten aus einer geistesgeschichtlichen Perspektive, indem er Schillers Ode in den Freudendiskurs des 18. Jahrhunderts stellte. Als „schöner Götterfunke“ wohnt Schillers Freude ein Erfahrnis-Charakter inne, der durch die Personifikation als „Tochter aus Elysium“, als antike Göttin Euphrosyne, in den Bereich der Metaphysik gerückt wird. In der Doppelfunktion dieser reinen Freude, zugleich zu überwältigen wie intensiv zu beleben, knüpft Schiller an die Idee einer erhabenen Freude an, wie sie der Diskurs der Zeit ausformte, ausgehend von Shaftesbury bis hin zu Friedrich Gottlieb Klopstock. Wird bei Shaftesbury, besonders in dessen Schrift The Moralists (1709), die erhabene Freude als vernünftiger und zugleich edler Enthusiasmus zur Triebfeder moralisch-politischen Handelns erklärt, sah Kant dies zunächst anders, bis er in seinen späteren Schriften selbst den vernunftgeleiteten Enthusiasmus der politischen Revolutionäre nobilitierte. Wie exemplarisch am Schöpferpostulat ersichtlich, knüpfe Schillers Ode dabei weniger an Kants Herleitung des Glaubens aus der Vernunft als an Shaftesburys Theorie an, dass sich Gott dem Menschen gerade in der Freude mitteile. Diese von Shaftesbury herkommende Idee einer göttlichen, erhabenen Freude bilde schließlich den utopischen Gehalt von Beethovens Neunter.

Den musikhistorischen und -analytischen Blick auf die Beziehung der Neunten zu ihrem Schwesterwerk, der Missa solemnis, weitete Birgit Lodes. In der Forschung (mit Ausnahme vor allem des entsprechenden Kapitels aus Hinrichsens Ludwig van Beethoven) oftmals übersehen oder als Verlegenheitslösung diskreditiert, legt die gemeinsame Ur- bzw. Wiener Erstaufführung am 7. Mai 1824 zentrale Parallelen offen. Zum einen kann die Programmierung der Akademie, bestehend aus der Ouvertüre zu Die Weihe des Hauses op. 124, dem Kyrie, Credo und Agnus Dei aus der Missa solemnis op. 123 und der Neunten Symphonie op. 125, vor allem anhand der Konversationshefte als planvoll erkannt werden; zum anderen scheint es nicht zufällig, dass Beethoven die beiden chorsymphonischen Schwesterwerke gemeinsam dem Schott-Verlag zur Veröffentlichung anbot. Wie Lodes mit Blick auf die Wiener Presse aufzeigen konnte, lassen sich beide Werke zudem als gewichtige Beiträge zu einer vaterländischen Agenda verstehen. Zugleich sind die kompositionstechnischen Bezüge ernst zu nehmen: die motivischen und tonartlichen Verwandtschaften sowie die je aus einer intensiven Auseinandersetzung hervorgehende, eigenständige Textbehandlung Beethovens. In Zeiten, da der Frieden durch den Wiener Kongress als gesichert galt, erweisen sich schließlich die Widmungen der bei der Akademie (ur-)aufgeführten Werke als sprechend, versammeln sie mit Fürst Galitzin, Erzherzog Rudolph und Friedrich Wilhelm III. doch gleichsam die drei Bündnispartner der Heiligen Allianz.

An der künstlerisch wie wissenschaftlich produktiven Schnittstelle zwischen Musik und Literatur beleuchtete Frieder von Ammon die in Thomas Manns Roman Doktor Faustus formulierte Idee, Beethovens Neunte zurückzunehmen, sowie die von ihr ausgehende Wirkung auf die jüngere Musikgeschichte. Schon die von Mann verarbeitete Skizze Adornos mit dem Titel Ad Klage Dr. Fausti wirft eine terminologische Frage auf. Kennt die Literaturgeschichte die Palinodie als Zurücknahme eines eigenen Werkes durch ein späteres, so liegt in Adornos Konzept der Zurücknahme eines historischen Vorläuferwerks ein bewusstes Irritationsmoment. Mit Blick auf Manns Umsetzung jener Idee in Adrian Leverkühns Dr. Fausti Weheklag stellte von Ammon heraus, dass Leverkühns Kompositionsvision zum einen aus einem negativen Amen hervorgeht („es soll nicht sein“), mit dem er im Angesicht des Todes seines Neffen das in Beethovens Neunter exponierte „Gute und Edle“, „das Menschliche“ zurückzunehmen gedenkt. Zum anderen markiert Leverkühns Ausspruch „Ich habe gefunden“ die Vision als Heureka-Erlebnis und stellt die Idee der Zurücknahme dem hiermit referenzierten Archimedischen Prinzip als „Leverkühn’sches Prinzip“ gegenüber. Die an sich sprachwidrige Zurücknahme der Neunten wird damit zu einem Naturgesetz erhoben, das auf die Konzeption des Romans als Zurücknahme von Goethes Faust ausstrahlt. Schließlich bezeugt die kompositorische Rezeption von Adornos und Manns Idee unter anderem in Hans Werner Henzes Neunter Symphonie, seinem Dritten Violinkonzert und in Peter Ruzickas „…Zurücknehmen…“ Erinnerung für großes Orchester, dass von einer regelrechten Musikgeschichte des Doktor Faustus gesprochen werden kann.

Mit der Interpretationsforschung eröffnete der krankheitsbedingt von Matthias Schmidt verlesene Vortrag von Wolfgang Rathert ein weiteres Feld, um das sich der Jubilar seit seiner Habilitationsschrift über Hans von Bülow enorm verdient gemacht hat. Aus der bis ins Jahr 1923 zurückreichenden Diskographie der Neunten fokussierte Rathert mit Blick auf den ersten Satz zwei dem Ansatz nach grundverschiedene Live-Aufnahmen: Arturo Toscaninis Dirigat des NBC Symphony Orchestra vom 3. April 1948 sowie die Luzerner Aufnahme des Philharmonia Orchestra vom 22. August 1954 unter Wilhelm Furtwängler. Kann der erste Satz mit Blick auf seine Rezeptionsgeschichte, von den zeitgenössischen Rezensionen über Richard Wagners und Felix Weingartners Retuschen bis hin zu den analytischen Positionen Donald Francis Toveys, Heinrich Schenkers, Adornos und Igor Markewitschs, als ausgesprochen mehrdeutig gelten, so stellt er auch für die Interpretation eine besondere Herausforderung dar. Die interpretatorische Polyvalenz des Satzes legt exemplarisch der Vergleich zwischen Toscaninis und Furtwänglers Dirigat offen. Während Furtwängler, von einem deutlich langsameren Grundtempo ausgehend, die Variationen desselben Tempos, damit die Übergänge und – mit Adorno gesprochen – die „schönen Stellen“ hervorhebt, richtet sich Toscaninis Augenmerk, bei durchweg rascherer Temponahme, auf die Symmetrie der größeren Proportionen. Inszeniert Furtwängler den Weg als das eigentliche Ziel, entfaltet Toscanini einen dynamischen Sog hin zu letzterem – beide Möglichkeiten sind in Beethovens Partitur angelegt.

Das Schlusswort zu einer ausgesprochen instruktiven und, bis hin zum anschließenden Empfang, rundum gelungenen Tagung gebührte erneut dem Jubilar. Unter großem Dank an alle Beteiligten reflektierte Hinrichsen zentrale rezeptionsgeschichtliche Marksteine der Neunten – von Eduard Hanslick und Richard Wagner über Gustav Mahler bis hin zu August Halm und jenen Abnutzungserscheinungen, die er in seinem Beethoven-Buch von 1927 benannt hat. Die Forschung allerdings kennt weder einen endgültigen Verschleiß noch einen finalen Sättigungspunkt. Vielmehr hat die Tagung, deren Ergebnisse im kommenden Frühjahr als Heft 1/2023 der Zeitschrift Musiktheorie erscheinen werden, einmal mehr unter Beweis gestellt, dass ein gemeinsamer Blick stets Anlass zu einer neuen wissenschaftlichen Auseinandersetzung bietet – sei der Gegenstand auch noch so kanonisch.