Komponistinnen und Musikerinnen im Fokus: Genderfragen an Rhein, Main und Themse

Neuwied-Engers (Schloss), 10.–11.03.2023

Von Sina Blum, Neuwied – 04.04.2023 | Die Arbeitsgemeinschaft für mittelrheinische Musikgeschichte e. V., angegliedert an die Abteilung Musik­wissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, lud zusammen mit der Villa Musica für den 10. und 11. März 2023 zu einer Tagung im Schloss Engers in Neuwied-Engers ein, um passend zum diesjährigen Komponistinnen-Saisonschwerpunkt der Villa Musica Genderfragen im Mittelrheingebiet mit Exkursen an die Themse zu diskutieren.

Bei seiner Begrüßung wies Klaus Pietschmann (Mainz) darauf hin, dass die musikwissenschaftliche Forschung seit Jahrzehnten dazu beiträgt, bisher vernachlässigte Musikerinnen und Komponistinnen stärker in den Fokus zu rücken. Diesen Bestrebungen folgte die Tagung und schritt dabei chronologisch durch die Geschichte; von Franzsika Danzi-Lebrun (1756–1791), einer exakten Zeitgenossin Mozarts, bis hin zu der Beteiligung von Frauen an Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt.

Ursula Kramer verlas in Vertretung für Axel Beer (Mainz) dessen Keynote zur Regionalgeschichtsforschung. Als Herausgeber des biografischen, orts- und landes­geschicht­lichen Online-Lexikons „Musik und Musiker am Mittelrhein“ mahnte er in absentia auf humorvolle Art besonders vor den Fallstricken der Regionalgeschichtsforschung.

Im ersten Fallstudien-Beitrag befasste sich Robert Abels (Koblenz) mit Danzi-Lebrun und ihrem Klavierwerk, insbesondere den technisch anspruchsvollen Sonaten für Pianoforte und Violine. Die Analyse ihrer Musik und der Vergleich mit Kompositionen Mozarts diente nicht allein dazu, ihr Werk zu kontextualisieren, sondern zeigte im Umkehrschluss auch, wie es eine neue Perspektive auf Mozarts Musik eröffnen kann.

Weitere neue Perspektiven konnte auch der sich anschließende Vortrag von Rüdiger Thomsen-Fürst (Mannheim/Schwetzingen) aufzeigen. Seine Forschung zu der in den 1760er Jahren an der Garnisonskirche in Mannheim als Organistin tätigen Anna Maria Bardele (1741-1814?) stellt bisherige musikwissenschaftliche Aussagen zur Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, dass diese Position von Frauen besetzt werden konnte, in Frage. Mit der weitreichenden Erschließung und Erforschung der Quellen förderte Thomsen-Fürst also nicht nur grundlegende Erkenntnisse zur Organistin Bardele zu Tage, sondern stieß gleichzeitig eine Diskussion um musikhistoriografische Deutungen an.

Laura Bettag (Mannheim) referierte unter dem Titel „Pomonas musikalische Enkeltochter. Von der ‚Seelenmusik‘ Sophie von La Roches zum Musikbegriff des ‚Ozeans‘ bei Bettina von Arnim“ zur musikalisch-künstlerischen Bildung sowie zu Betätigungsfeldern von Frauen und Mädchen, gefiltert durch den Blick auf die Familiengeschichte der im Mittelrheingebiet ansässigen Sophie von La Roches (1730–1807) sowie deren Enkelin Bettina von Arnims (1785–1859).

Der Vortrag von Karl Böhmer (Mainz) führte vom Rhein weg hin zur in Venedig geborenen und zeitweilig in Paris und London tätigen Laura Sirmen (1745–1818). Dabei kam besonders die Vielfältigkeit dieser Musikerinnenbiografie zum Vorschein. So beschrieb Böhmer den Wandel Sirmens von der bekanntesten Violinistin ihrer Zeit hin zur Primadonna, die ihre Gesangskarriere erst im Alter von 27 Jahren startete. Zudem stellte er Kompositionen der vielseitig versierten Musikerin vor.

Im Beitrag von Michael Kube (Tübingen) ging es um Kontext, Stil und Rezeption der Streichquartette Emilie Mayers (1812–1883). Kube hob hier insbesondere den Forschungsbedarf hervor und präsentierte seine diesbezügliche Spurensuche, für die Tages- und Musikzeitungen in Kleinstarbeit auszuwerten waren. Die Tatsache, dass es bislang noch keine Einspielung der Streichquartette gibt, erweist sich als weiterer weißer Fleck in der Musiklandschaft.

Helma Brunck (Frankfurt a. M.) bot einen neuen Blickwinkel auf die Rolle von Frauen in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Sie stellte die Frankfurter Salonière Clotilde Koch-Gontard (1813–1869) und den sie umgebenden Künstlerkreis vor, dem Musiker:innen und Komponist:innen wie Clara Schumann, Jenny Lind und Felix Mendelsohn-Bartholdy angehörten. Dabei bezog Brunck auch die revolutionären Ereignisse von 1848/49 mit ein und komplettierte dadurch ihre Nachzeichnung des gesellschaftlich-künstlerischen Kontexts und den Einfluss, den eine Salonière wie Koch-Gontard innehatte.

Den letzten Block des ersten Tages eröffnete Corinna Herr (Koblenz) mit der eigentlich bereits für den Morgen gedachten, aus Termingründen verschobenen zweiten Keynote, die sich – als eine Art Gegenstück zu den Ausführungen von Beer – der Genderthematik widmete. Herr ging es dabei vor allem um grundsätzliche Frage­stellungen und Methoden der regionalen Musikgeschichte und Frauenforschung, zudem mahnte sie einen problematisierenden Umgang mit den ideologischen Tendenzen in früheren Forschungsbestrebungen an und verwies auf die Notwendigkeit, neue Erkenntnisse nicht nur zu sammeln, sondern auch zu perspektivieren.

Neue Einblicke gewährte Britta Stallmeister (Frankfurt a.M.) mit ihrem Vortrag über die Schule der Mathilde Marchesi (1821–1913) und deren große Erfolge als Gesangspädagogin, welcher nicht nur nachvollzog, wie Marchesi sich als Lehrerin etablierte, sondern auch in den Blick nahm, wie die Musikerin ihre eigene Karriere als persönliche Normabweichung charakterisierte. Dies wiederum stieß eine vertiefende Diskussion an, wie die Selbstwahrnehmung aktiver Musikerinnen sich im Laufe der Zeit wandelte und inwieweit dies in der Genderforschung zu kontextualisieren sei.

Kristina Krämer (Mainz) referierte am Ende des ersten Tagungstags zu Komponistinnen im Programm von Frankfurter Musikverlagen. Dabei stellte sie die Bandbreite kleiner Musikverlage in Frankfurt vor, die sich deutlich von der Mainzer Situation rund um den Schott-Verlag abhob. Krämer konnte 40 Komponistinnen ausfindig machen, die vom späten 19. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhunderte in der Frankfurter Verlagswelt präsent waren. Es ging zudem um die Rezeptionsgeschichte dieser Musikerinnen, die zu Lebzeiten oftmals prominent waren und heute kaum mehr bekannt sind.

Abgerundet wurde der erste Tag durch ein Konzert des Duos „Les Grandes Dames“, bestehend aus Marilies Guschlbauer am Violoncello und Julia Rinderle am Klavier, mit einem exklusiven, zur Tagung passenden Programm. Im Vorgriff auf einen Vortrag am Samstag spielte das Duo die Cellosonate a-Moll op. 5 von Ethel Smyth (1858–1944),. Außerdem erklangen Henriette Bosmans (1895–1952) Cellosonate, Lera Auerbachs (*1973) Postlude aus 24 Preludes, op. 47 und die Sonate dramatique Titus et Bérénice von Rita Strohl.

Der zweite Konferenztag wurde von Lina Varlemann (Hannover/Heidelberg) eröffnet. Mit dem Beitrag „Wilma Neruda. Primaria bei den Popular Concerts 1838-1911“ führte Varlemann die Zuhörenden vom Mittelrhein weg nach London, wo Neruda (1839–1911) in 33 Jahren mehr als 570 Auftritte bei den sogenannten Popular Concerts absolvierte, die dem Ziel dienten, Musik für alle zugänglich zu machen.

Anschließend referierte David Reißfelder (Köln) zu drei englischen Komponistinnen, neben Ethel Smyth auch Adela Maddison (1862–1929) und Rebecca Clarke (1886–1979).

Mit dem Vortrag „Künstlerinnen-Rollen vom Main: Pianistinnen im Ducartist-Klavierrollen-Repertoire der Frankfurter Musik-Werke-Fabrik Philipps & Söhne, 1907-1912“, legte Fabian Kolb (Frankfurt a.M.) das Betätigungsfeld von Frauen als Pianistinnen, welche die im frühen 20. Jahrhundert beliebten Klavierrollen einspielten, dar. Gleichzeitig entfalteten sich anhand der Problematisierung der damaligen Marketingstrategien, die zur Vermarktung der Rollen vor allen Dingen auf die Abbildung attraktiver Frauen setzte, Fragestellungen der Genderforschung.

Einen interdisziplinären Exkurs bestritt Peter Niedermüller (Mainz) mit seinem Thema „Mit oder ohne Damen. Musik und Geschlechterstereotypie im ‚Rheinfilm‘ am Beispiel von Die vom Niederrhein (D 1933).“ Niedermüller bot eine filmhistorische Einordnung des in den 1920er Jahren beliebten Rheinfilms. Seine Betrachtung der Darstellung von Musik und Geschlechterstereotypie im genannten Filmbeispiel zeigte auf, wie Exkurse in die Methodik und Betrachtungsweise anderer Forschungsdisziplinen dazu beitragen können, die Erforschung der Musikgeschichte am Mittelrhein um neue Perspektiven zu erweitern.

Zu einem genuin musikwissenschaftlichen Betrachtungsschwerpunkt führte der Vortrag von Tanja Geschwind (Frankfurt a.M.) zurück. Hier stand die Kammermusik von Johanna Senfter (1879–1961) unter stilistischen Gesichtspunkten im Mittelpunkt; exemplarisch wurde anhand der Werke op. 18 (Zwei Lieder für Chor a capella) und op. 101 (Viola Sonate Nr. 2 F-Dur) der im Neobarock und Neoklassizismus verhaftete Stil der in Oppenheim geborenen und wirkenden Komponistin aufgezeigt.

Mit ihrem Beitrag zu Aleida Montijn (1908–1989) referierte Ursula Kramer (Mainz) zu einer weiteren Komponistin des 20. Jahrhunderts. Im Vordergrund stand die für ihre Zeit außergewöhnliche Tätigkeit Montijns als Komponistin von Schauspielmusik, mit der die ausgebildete Kapellmeisterin sich eine Nische geschaffen hatte, in der sie einer vielfältigen musikalisch-kompositorischen Tätigkeit nachgehen konnte. Hierzu entfaltete sich eine rege Diskussion um die Frage, inwiefern Musikerinnen solche Beschäftigungsmöglichkeiten, die außerhalb regulärer Karrierewege anzusiedeln sind, zwangsläufig als (geschlechterbedingte) Zurückstufung erleben mussten oder ob sie als gleichwertige Alternativmöglichkeit zur musikalischen Betätigung empfunden werden konnten.

Den Abschluss der Konferenz bildete der Vortrag von Florian Zimmermann (Mainz) zur Rolle der Frauen bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. Mit dem Verweis darauf, wie unterrepräsentiert Frauen bei den Kursen waren, rückte er nicht nur das Tagungsthema der Genderfragen abschließend noch einmal in den Mittelpunkt, sondern griff auch die Frage nach der Methodik der Regionalgeschichtsforschung auf, indem er auf die Möglichkeiten von Oral History bei der Erforschung seines Themenschwerpunkts verwies.

Mit dieser Betrachtung, die methodologische und inhaltlicher Fragestellung gleichermaßen berücksichtigte, rundete Zimmermann nicht nur sein eigenes Thema ab, sondern fand auch einen Schlusspunkt für die zwei Tage, bei denen sich beide Aspekte einem roten Faden gleich durch die Konferenz gezogen hatten.